ABC und ganz viel Wasser: Amiens

Donnerstag/Freitag, 12. und 13. Juni in Klein Venedig

Heute verlassen wir die Normandie und nach gut anderthalb Stunden Fahrt kommen wir in Amiens an.

Von Rouen (G) nach Amiens (H), 123 km

Die Stadt hat 135.00 Einwohner, davon 30.000 Studierende, Liegt in der Region Hauts de France und im Departement Somme. Im Gebiet so ungefähr zwanzig bis sechzig Kilometer nordöstlich von Amiens fand im 1. Weltkrieg die Schlacht an der Somme statt. Nach unseren Besuchen in Verdun und den Landungsstränden während des D-Day reicht es uns allerdings mit all dem Kriegsgeschehen. Wir lassen das Thema diesmal aus.

Der Fluss Somme dominiert das Stadtbild: Die Somme selbst, der Somme-Kanal, unzählige Seitenarme, Kanälchen, Wasserableitungen, Wehre, Schleusen … überall Wasser.

Und dazu außerhalb der Stadt noch Altarme, Moor und Sumpfgebiete. In einem davon – trockengelegt natürlich – schlagen wir unser Lager auf, der Stellplatz am CP les Cygnes lässt kaum Wünsche offen. Das Wetter auch nicht – der Sommer ist angekommen.

Wir machen uns gleich nach der Ankunft auf in die Stadt. Ein sehr schöner Radweg führt am Ufer des Somme-Kanals entlang und nach knapp 5 Kilometern kommt unser erstes Ziel in Sicht:

Nein, das nicht. Es ist auch – leider – nicht die Untertassensektion der Enterprise, sondern die Hochschule für Ingenieurwesen.

Das hier:

Die berühmte Kathedrale von Amiens.

Die alte Bischofskirche von Amiens brannte praktischerweise im Jahr 1218 ab, eine günstige Gelegenheit beim gotischen Wettrüsten im Kathedralenbau weit vorne mitzumischen. Der Grundriss war so riesig, dass der Chor in die Stadtmauer ragte. Bis dort Platz geschaffen war, baute man notgedrungen erst mal Langhaus und Westfassade (normalerweise fing man mit dem Chor an, dem geweihten Raum für Gott und Klerus. Der Raum für’s Volk kam danach). 1366 war man bis auf die Türme fertig und hatte – tadaa 🥳 – die größte Kathedrale Frankreichs gebaut.

Von Karl Baedeker (Firm) – https://www.flickr.com/photos/internetarchivebookimages/14759510006/Source book page: https://archive.org/ stream/ northernfranc00karl/northernfranc00karl#page/n86/mode/1up, No restrictions, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42713654

145 m lang, 70 m breit und gut 42 m hoch. Macht 200.000 m3. Das Doppelte von Notre Dame de Paris. Ob sie nun größer ist als die Kathedrale von Sevilla oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es ist jedenfalls ein ziemliches Trumm.

Sieht schepp aus, ist aber so. Der Boden ist abschüssig.

Aber eigentlich vergleichsweise schlicht, was einigen Rationalisierungen zu verdanken ist, die man hier erstmals einführte: Es gab nur eine gewisse Anzahl genormter Bauteile, die man somit nicht vor Ort einpassen musste, sondern auf einer wetterfesten Nebenbaustelle ganzjährig behauen konnte. Damit wurde der Bau aber auch gleichförmiger und schlichter.

An der Westfassade haben sich die Steinmetze aber dann doch ausgetobt, es ist mal wieder die beliebte Darstellung des Jüngsten Gerichts. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – zu Jesus rechter Hand führt ein Engel fröhliche Menschen zur Himmelspforte, links treibt der Teufel sie in den Höllenschlund. Da hilft kein Jammern und Wehklagen 👹.

Bilderstürmer und Revolutionäre haben den Figurenschmuck in Amiens in Ruhe gelassen, die beiden kopflosen Herren hier sind 1. der Hl. Dionysos/Denis und Nr. 2 eventuell Albanus von Mainz. Zumindest habe ich keine anderen Heiligen gefunden, die mit dem Kopf in den Händen dargestellt werden.

Der Innenraum der Kathedrale ist erwartungsgemäß gewaltig, doch durch die enorme Breite wirkt er gar nicht so hoch. Den Boden ziert hier, wie in Chartres, ein Labyrinth. Ich glaube aber, das ist später dazu gekommen. Der Boden wirkt doch recht neu.

Ich muss zugeben, dass wir der Kathedralen allmählich ein wenig überdrüssig werden – Another Bloody Cathedral (ABC). Also verweilen wir nicht allzu lange und das hat uns wohl das Universum geraten, denn kaum sind wir wieder draußen, kommt eine doppelspännige Kutsche ums Eck und hält vor dem Eingang.

Ich frage gleich nach: Ja, man macht kleine Rundfahrten durch die Altstadt, reservieren braucht man nicht, kostet 8 Euro pro Nase – ja, acht Euro – und geht gleich los. Schnell noch ein Foto mit den beiden Kutschpferden und auf geht’s, nur wir beide ganz exklusiv! Haben wir ein Glück 🍀.

Im Hintergrund übrigens der obligatorische Petit Train

Die beiden Pferde, deren Namen ich mir nicht habe merken können, sind Boulonnais, eine lokale Pferderasse. Ein leichtes Kaltblutpferd mit spanischem Einschlag, das als Zugpferd und – leider – als Schlachtvieh gezüchtet wird. Der Franzose futtert ja schon irgendwie alles, was nicht bei 3 auf dem Baum ist: glitschige Austern, Schnecken, Frösche und eben auch Pferdefleisch.

Diese beiden hier haben zum Glück einen besseren Job bei Les Calèches de Ponthieu erwischt, zumindest ist ihnen ein längeres Leben beschieden. Sie machen ihren Job sehr routiniert, auf der großen Kreuzung und erst recht in den engen Gassen und Kurven. Die wissen genau, wie sie die Kutsche manövrieren müssen.

Unser Kutscher erzählt uns ganz viele interessante Dinge über Amiens: Es war eine zugleich reiche und arme Stadt: Der Reichtum kam durch die Textil- und Färbeindustrie. Man hatte hier alles, was man brauchte: Wasser, Flachs/Leinen und auf den sumpfigen Böden gedieh der Färberweid, mit dem man die begehrten blauen Stoffe färben konnte. Sie wurden vor allen Dingen nach England exportiert. Den Reibach steckten allerdings die reichen Adeligen, Bürger und Kirchenmänner ein. So findet man im Arbeiterviertel Saint-Leu winzige Häuser, 2 auf 4 Meter, mit ganz schmalen Türen, Fluren und Treppen, da würde ich grad so durchpassen.

An der Breite des Haues konnte man den Status seines Besitzers ablesen. Manche der Häuser neigen sich beträchtlich nach vorne oder hinten, sie sind auf sumpfigem, instabilem Boden gebaut.

Postkartenfoto

Neben den kleinen bunten Häusern bringt auch viel Streetart Farbe in die Stadt, jedes Jahr gibt es ein dreitägiges Festival, das die Kunst auf die Straße bringt.

Problème de connexion: Vertieft in sein Handy, bemerkt er nicht, dass er langsam überwuchert wird

Die Universität ist nach dem berühmtesten Einwohner der Stadt, Jule Verne, benannt. Und ihre Fassade der Nautilus nachempfunden. Cool!

Cool ist auch dieser Wohnturm, der von Auguste Perret, dem Architekten des neuen Le Havre, gebaut wurde. Natürlich aus Beton. Ich finde er sieht aus, als hätte ein Riesenkind mit Bauklötzen gespielt. Nachts leuchtet der Tour Perret wie eine Kerze, ein Symbol für die Wiederauferstehung Amiens‘ nach dem Krieg.

Das war eine wundervolle Kutschfahrt, wir verabschieden uns ganz herzlich von den Beiden. Bei Calèches de Ponthieu machen die übrigens sehr rasante Sachen, wie man auf der Homepage sieht. Respekt!

Als nächstes (und Letztes) statten wir dem Maison Jules Verne einen Besuch ab. Hier kann man vor allem sehen, dass Verne ein sehr wohlhabender Mann war und einen vornehmen Haushalt führte. Obwohl das wohl eher die Aufgabe seiner Frau Honorine war. Verne ist 1828 in Nantes geboren, zog 1872 nach Amiens, wo er 1905 starb.

Verne hat eine Unzahl an Büchern geschrieben, auch Sachbücher über Entdeckungen und Seefahrer, ist selbst sehr viel gereist und war ein passionierter Freizeitkapitän. Berühmt wurde er durch seine Abenteuerromane, am bekanntesten ist wohl die mehrfach verfilmte „Reise um die Erde in 80 Tagen“ des reichen Briten Phileas Fogg mit seinem Diener Passepartout. Vor allen gilt Verne zusammen mit H.G. Wells und Mary Shelley (Frankenstein) als „Vater“ der Science fiction, schickte Kapitän Nemo mit der Nautilus 20.000 Meilen unter das Meer und reiste zum Mond und zum Mittelpunkt der Erde. Seine fantastischen Fahrzeuge haben den Steampunk maßgeblich beeinflusst.

Aber zurück ins Museum: Am interessantesten sind die oberen Stockwerke, besonders der Dachboden, wo ein Sammelsurium an Modellen und Filmplakaten etc. zu finden ist.

Die Stadt ehrt ihren prominenten Bürger mit einem Jules Verne-Pfad (hatten wir zu wenig Zeit für), natürlich mit der nach ihm benannten Universität, diversen Büsten und einer Säule, die mal eine Aufhübschung vertragen könnte.

Der Trauerzug

Am Freitag haben wir auch noch sein Grab auf dem Cimetière Madeleine besucht, ein beeindruckendes Grabmal. Die Inschrift lautet Vers l’immortalité et eternelle jeunesse – Zu Unsterblichkeit und ewiger Jugend.

Und weil es hier grad hinpasst noch ein paar Eindrücke vom alten Teil des Friedhofs:

Oben: Gewaltige Grabstätten und Familiengruften
Unten: Hier ruht man wirklich in Frieden – und überwuchert langsam. Auch als Hobbit 🙊

Und – teilweise im Thema aber off the record – noch zwei Fundstückchen: Links sehen wir das Beerdigungsinstitut „Das andere Ufer“ – sorry, aber ich stell‘ mir vor, wie das bei uns ankäme 🤦‍♀️🤣. Mit Sinn für Humor oder auch Ironie wurde das Studentenwohnheim benannt: Die schönen Jahre!

Freitag der Dreizehnte: Les Hortillonages

Unser letzter Programmpunkt in Amiens ist auch ganz spannend: Es geht mit dem Boot in die „Hortillonages“ (lateinisch hortillus=Gärtchen). Ich zitiere mal Wikipedia:

Die Hortillonnages von Amiens  sind in Feuchtgebieten angelegte Kleingärten, die wohl seit der Zeit der Römerherrschaft, jedenfalls aber seit dem Mittelalter der Versorgung der Einwohner von Amiens mit Obst und Gemüse dienten. Von der ursprünglich 10.000 ha umfassenden Fläche bestehen heute noch 300 ha. Seit den 1950er Jahren ging der Anbau von Gemüse in den Hortillonages erheblich zurück. Aktuell bewirtschaften noch zehn Gärtner ca. 25 ha Land. Die restliche Fläche besteht aus Kleingärten und dient als Zweitwohnsitz zu Erholungszwecken.

Mit dem vollbesetzten Boot schippern wir gemächlich und lautlos (Elekromotor) durch das Gewirr der Kanäle.

Eine faszinierende Wasserlandschaft, in der sich manch einer ein kleines Freizeit-Paradies geschaffen hat und das anderswo einer Wildnis gleicht. Fifty shades of green.

Wer nicht Pächter oder Eigentümer einer Parzelle ist, darf nur mit dem Leihkanu oder wie wir, mit einem Guide in die Hortillonages

Mit diesem schönen Bild verabschieden wir uns aus Amiens, das zwar nicht an den herausgeputzten Fachwerk-Charme von Rouen heranreicht, aber eine hübsche und interessante Stadt ist. Sehr authentisch, auch in den nicht so schönen, immer noch ärmlichen Ecken, die wir vor allem auf der Kutschfahrt auch gesehen haben. Auch hier gibt es sicher noch viel mehr zu entdecken, vor allen Dingen an und mit dem Wasser.

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