Mittwoch, 2. August 2023
Alle drei von uns konsultierten Wetterhervorsager waren sich gestern einig: Am Mittwoch wechselt sich Regen mit Schauern ab. Und ich muss gestehen: Sie hatten alle drei recht.
Nach dem YR-Wetterradar schaut es über dem Bottnischen Meerbusen äußerst gruselig aus und europaweit kaum besser.
Aus der geplanten oder eher erhofften Fahrradtour wird deshalb nix, aber wir lassen uns das Gemüt nicht verregnen, sondern starten in die Kyrkstad von Öjeby, die gerade mal 2 Kilometer vom CP entfernt liegt.
Auch hier finden wir wieder die falunroten Kirchhäuser, etwa 170 an der Zahl, wie gestern in Gammelstad. Eng an eng gepackt stehen sie bei der Steinkirche von Öjeby.
Im Gegensatz zu Gammelstad gibt es hier recht viele zweistöckige und auch breitere Kirchhütten. Diese größeren Häuser gehörten aber nicht etwa einem (reichen) Besitzer, sondern mehreren. Jede Familie besaß und bewohnte nur einen Raum.
Das ist bis heute so! Der Grund und Boden gehört der Kirche, die Häuser bzw. die Zimmer Privatleuten. Sie werden auch heute an kirchlichen Feiertagen als Hüttenkapellen geöffnet oder von ihren Besitzern bewohnt. An einem Häuschen hängt ein Kaufangebot: „Nur drei Eigentümer“ und für 2 Räume (12m2 und 3m2) samt Einrichtung 35.000 SEK, ca. 3.000 Euro.
Das klingt erschwinglich, aber wir können ein Haus besichtigen und da klingt die Begeisterung ab: Als Ferienhaus ist das nur bedingt geeignet! Die Hütten sind auf Steinen aufgebockt, der Boden uneben und teilweise sieht man durch die Bohlen auf die Erde. Die offene Feuerstelle, manchmal mit gusseisernem Herd oder Ofen, dient als Kochstelle und Heizung. Alles ist winzig.
Für normale Betten sind die Zimmerchen zu klein
Elektrizität, fließend Wasser oder gar Bad/Toilette sind Fehlanzeige und können auch nicht nachgerüstet werden. Denkmalschutz!
Da ist uns der HoGo lieber, auch wenn er nicht größer ist als so eine Kirchenstube.
Das und vieles mehr erfahren wir von einem freundlichen jungen Mann, der in der Kirche als Guide Dienst schiebt. Wir sind gegen 12 Uhr die ersten Besucher. Er vertieft noch einmal unser Wissen aus Gammelstad.
Die Kirche hat, wie in Schweden üblich, einen freistehenden Glockenturm und ist um das Jahr 1500 herum gebaut worden. Hier war es ganz ähnlich wie in Gammelstad: Bis ins 17. Jahrhundert waren Kirche und Markt/Stadt beisammen, dann verlandete der Hafen und die Stadt „zog um“. Wie Luleå wurde auch Piteå an die neue Flussmündung verlegt. Die Kirche blieb, wo sie war, und das Einzugsgebiet der Gemeinde wurde sogar immer größer. 1544 wurde der Protestantismus zur Staatsreligion erklärt und der regelmäßige Kirchgang war verpflichtend. Für die weit anreisenden Gläubigen stellte die Kirche den Grund zur Verfügung, auf dem sie sich die Hütten für ihren Aufenthalt errichten durften. Meist blieb man länger, wenn man schon einmal da war, um zu kaufen und zu verkaufen, Geburten und Todesfälle registrieren zu lassen, sich mit anderen Menschen auszutauschen und last but not least, um auf Brautschau zu gehen (man wusste um die Gefahren der Inzest).
Die Kirche hat einen sehr ungewöhnlich angebrachten Altar, der schräg in der Mitte steht: Im 18. Jahrhundert wurde die alte Langkirche um 2 Seitenschiffe zu einer Kreuzkirche erweitert, um mehr Platz für die vielen Gemeindemitglieder zu schaffen. Damit alle dem Gottesdienst folgen und den Altar sehen konnten, wurde er 1811 an seine jetzige Position gerückt. Der barocke Altar zeigt den triumphierenden Jesus, keinen leidenden – der Barock als Propagandainstrument der Gegenreformation sollte die Menschen mit positiven Vibes, Emotionen und viel Glitzer wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückbringen. Als vorherrschender Stil fand er dann zwangsläufig auch seinen Weg in die protestantischen Gegenden. Sehr interessantes Thema und immer noch aktuell, denn eigentlich wird heute noch genau so manipuliert, mit emotionalen Bildern auf dem Schlachtfeld der Medien. Digitaler Barock sozusagen.
Wir verabschieden uns von Öjebyn, fahren noch einen Schlenker nach Piteå zum System Bolaget (Liquor Store) für unseren „Anleger“ und weiter auf der E4 nach Süden. Das ist recht eintönig, so biegen wir immer mal wieder nach links ab, und fahren die wenigen Kilometer bis an die Küste. Ein gewisser Herr Herbst ist unser Ratgeber, er beschreibt „Die schönsten Routen zum Nordkapp“. Da wir auf dem Rückweg sind, lesen wir das Buch in Gegenrichtung, von hinten nach vorne ⏪. Richtungsunabhängig preist der Herr Herbst die Riviera des Nordens zwischen Skellefteå und Piteå.
Am Hafen von Jävre legen wir im strömenden Regen eine Mittagspause ein und verköstigen uns in Bea’s Rökeri & Café mit einem köstlichen Lachs- und Shrimps-Sandwich.
Während draußen der Regen prasselt, sitzen wir gemütlich und trocken in einer urigen alten Hafenstube, vielleicht früher mal eine Fischerhütte oder ein Geräteschuppen. Wie Riviera sieht es hier allerdings nicht aus, obschon sehr, sehr nett. Selbst bei dem Wetter.
Das Gebäude gegenüber ist die Tourist-Information von Jävre, die 1967 eröffnet wurde. Sie sollte das Tor in den Norden für den beginnenden Autotourismus sein – doch lag sie plötzlich auf der falschen Straßenseite! Dagen H – Tag H – bezeichnet den 3. September 1967, als in Schweden die högertrafikomläggningen – die Umstellung auf Rechtsverkehr – in Kraft trat. Dumm gelaufen!
Zu allem Pech sollte das Turistcenter ursprünglich wie eine Brücke über die E4 gebaut werden – aber das wurde nicht genehmigt. Also stellte man das für die 60er Jahre supermoderne, ja futuristische Gebäude nebendran.
Heute gehört der Retro-Look zum Programm: Oben erwartet den Besucher neben einem Info-Schalter eine kleine Zeitreise in die 60er, mit allerlei Alltagsgegenständen und sogar einem Ford Anglia Baujahr 1961.
Und hätten wir unseren dabei gehabt und gespendet, hätten wir an einem laufenden Weltrekordversuch teilnehmen können: Das Jävre Turistcenter arbeitet an der weltweit größten Kollektion von Eiskratzern!
Statt dessen begeben wir uns auf den umgekehrten Spuren des Herrn Herbst weiter auf die Suche nach der Riviera des Nordens.
Volker versucht es mit einer Nebenstrecke der E4, aber es ist unverkennbar: Auch hier keine Riviera, weder weit noch breit 😂.
Am Ende des Tages werden wir dann doch noch fündig, in Killingsand. Sogar mit ein klein wenig Sonne!
Zusammen mit einer ruhigen kleinen Community von Wissenden (fast alles Deutsche) nehmen wir die Riviera in Beschlag, erfreuen uns an den Wellen, dem schönen Sandstrand und dem bisschen Sonne. Man könnte sogar baden gehen, aber irgendwie treibt es uns nach dem verregneten Tag nicht ins kühle Nass 🥶. Ist grad so schön trocken!
Heute am Mittwoch schließen wir unsere 10. Reisewoche ab, die im Süden Norwegens in Kristiansand begann. Wir sind nun seid einer Woche vom nordöstlichsten Punkt Norwegens in Vardø (H) strack nach Süden in Richtung Heimat unterwegs.