23. bis 25. Mai: Frankreichs schönste Kathedrale
Am Morgen erledigen wir auf der Wiese unsere Turnstunden 🧘🤸♀️, verfrühstücken gemütlich ein paar der gestern erworbenen Leckereien (z.B. Rillettes) und kaufen zum Abschied eine Flasche Champagner. Der kostet hier beim Erzeuger zwischen 20 und 40 Euro, also durchaus erschwinglich. Den werden wir uns bei Gelegenheit reinprickeln 🍾.


Dann geht’s über die A4 gut 250 km zum Campingplatz in Chartres.


Wir halten uns nicht lange auf: Heute ist das Wetter noch sehr schön und sonnig (wenn auch kühl), das wollen wir ausnutzen um die Fenster der Kathedrale in voller Pracht bewundern zu können. Bei Sonnenschein strahlen sie besonders – nehmen wir zumindest an. Also geht es fix über den idyllischen Radweg entlang der Eure in die Altstadt 🚴🚴♂️ und zur Cathédrale Notre Dame de Chartres.




Die Kathedrale Notre Dame de Chartres gilt als eine der schönsten, wenn nicht sogar als die schönste und authentischste gotische Kathedrale Frankreichs. Sie blickt auf eine besonders lange und wechselvolle Geschichte zurück 👀 .
In der Krypta gibt es Reste eines keltischen Brunnens, der zumindest auf eine Besiedelung hinweist, vielleicht war hier sogar schon lange vor der Zeitenwende ein „heiliger“ Ort. Die erste christliche Kirche wurde um das Jahr 350 errichtet, gefolgt von immer größeren Sakralbauten, denen aber kein langes Dasein beschieden war: Sie brannten ab, stürzten ein oder wurden von marodierenden Feinden (Goten, Wikinger) zerstört. Wenn ich richtig gezählt habe, ist das, was wir heute sehen, die achte Kathedrale von Chartres. Wir verdanken sie in ihrer heutigen Form dem großen Stadtbrand von 1194. Der legte den romanischen Vorgängerbau größtenteils in Schutt und Asche und eine neue, schönere, größere und modernere – nämlich gotische – Kirche wurde binnen 66 Jahren errichtet. Damit fügt sich Chartres in den damaligen Bauboom ein: Von 1180 bis 1270 wurden in Frankreich etwa 80 Kathedralen und knapp 500 Klöster errichtet, man baute sie geradezu um die Wette.
In Chartres blieb man aber auch pragmatisch: Der romanische Südturm war noch gut beisammen und wurde in den Neubau integriert. So zieren also zwei sehr unterschiedliche Türme das Westwerk der Kathedrale.
Wie konnte sich eine Kleinstadt wie Chartres aber überhaupt eine so riesige Kirche leisten? Dafür muss man zurückgehen in das Jahr 876. Karl der Kahle, ein Enkel Karls des Großen, schenkte der Kirche von Chartres eine heilige Reliquie, ein Stück Seidenstoff, das die Jungfrau Maria bei der Verheißung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel als Schleier getragen haben soll. Sie scheint ihn sorgfältig aufbewahrt zu haben – obwohl sie ja nicht wissen konnte, was aus dem Bub und ihr mal wird.
Dieses Stück Stoff wird hoch verehrt. Von Maria gibt es kaum Reliquien, sie ist – so der katholische Glaube – mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren. Und ihre Habseligkeiten hat sie mitgenommen, wie das eine gute Hausfrau so macht. Man weiß ja nicht, was der Himmel so zu bieten hat 🤷♀️. Aber Scherz beiseite – diese Reliquie war für Chartres ein Garant für Pilgerströme, die Ansehen und vor allem Geld in die Stadt brachten. Dass sie den Brand unbeschadet überstanden hatte, wurde zudem als göttliches Omen gewertet bzw. vermarktet. The show must go on …
Bis heute pilgern viele Gläubige oder Suchende auf dem Jakobsweg durch Chartres oder wallfahren gezielt hierher zu „Unserer Lieben Frau“. Selbst der Acceuil vom Campingplatz ist zugleich Pilgerbüro. Am Samstag erleben wir live, wie sich eine lange Prozession singend und betend Richtung Kathedrale wälzt. Ich frage mich, warum es WallFAHRT heißt, wo doch alle zu Fuß gehen?


Aber zurück zum Bauwerk: Nach dem vielen Pech mit den Vorgängerbauten blieb der „neuen“ Kathedrale Notre Dame dann jede weitere Zerstörung erspart. Nicht nur die 176 prächtigen Fenster, auch der Figurenschmuck, der andernorts den Hugenotten oder den Revolutionären zum Opfer fiel, ist in Chartres fast unversehrt erhalten.

Die Kathedrale begrüßt uns heute quasi mit offenen Armen: Das große Kirchenportal steht weit offen, es wird auch kein Eintrittsgeld erhoben, jeder hat freien Zutritt.
Weltberühmt sind vor allem die Fenster von Chartres, 176 an der Zahl und fast alle original erhalten. Sie erstrahlen in prächtigen Farben, wie am ersten Tag. Die Rezeptur des auf Kobalt basierenden Chartres-Blau ist bis heute ein Rätsel. Und man hat von Chartres behauptet, hier sei zum ersten Mal die Architektur nur noch als Gerüst für die Fenster aufgefasst.






Besonders faszinierend, finde ich den Chorumgang mit seinen fantastischen Steinmetzarbeiten. Die 40 Gruppen mit über 200 Skulpturen zeigen in chronologischer Reihenfolge Szenen aus dem Leben Jesu und der Jungfrau Maria. Der Zyklus geht einmal um den kompletten Chor außen rum, vom südlichen bis zum nördlichen Querschiff. 200 Jahre, von 1516 bis 1716, hat es gedauert, bis alle Skulpturen vollendet waren.


mitte: Einzug in Jerusalem
unten: Jesus vor Pilates (li) und Geißelung (re)

Und dann hält die Kathedrale noch ein paar Gimmicks bereit: Da ist zum einen das Labyrinth im Kirchenschiff- man findet es auch auf den Kanaldeckeln der Stadt abgebildet – das dem Besucher zur Besinnung dienen soll. Über 250 Meter lang ist der Weg hindurch.

Und dann haben wir noch den „Nagel“, ein Messingknopf, in einer Bodenplatte, der zur Sommersonnenwende im Juni bei Sonnenhöchststand hell aufleuchtet. Das Licht fällt durch ein kleines Loch im darüber gelegenen Fenster, der exakt auf diese Konstellation ausgerichtet ist. Solche Spielereien findet man ja häufiger, nichtsdestotrotz sind sie immer wieder verblüffend und waren sicherlich auch ein feature, um die Leute bei der Stange zu halten.

Wir verlassen die Kathedrale und stromern noch ein wenig in der Altstadt herum, es herrscht eine angenehme Stimmung, auf dem Domplatz wird ein Konzert vorbereitet, Menschen kommen und gehen, alle sind fröhlich.

Ab 19:30 Uhr haben wir einen Tisch im Les Feuilletines* reserviert, eine Empfehlung des Lonely Planet-Reiseführers, auf den man sich ganz gut verlassen kann. So auch diesmal. Das Essen ist vorzüglich, der Wein und der Service auch.

Feuilletines kriegt man allerdings nicht, das ist ein knuspriges Konfekt aus gesüßten Crèpes. Dafür eine gefrostete Schoko-Kugel über die der Chef heiße Schokoladensauce gießt: die Hülle schmilzt und gibt ihr Inneres aus Sahne, Karamell und Vanilleeis frei. Volker schwelgt im Schokohimmel. Ich nehm Käse.
Danach steht das highlight des Tags an: Chartres en lumière. Seit 22 Jahren gibt es dieses Spektakel, bei dem aufwendige Illuminationen und bewegte Projektionen die Stadt in eine leuchtende Kulisse verwandeln. Und das nicht an einem Wochenende, nein, Sieben Tage die Woche ab Einbruch der Dunkelheit, von April bis Januar! Wahnsinn!
Die Lichteffekte sind von ungeheurer Präzision und Leuchtkraft, gestochen scharf und mit Musik unterlegt – es ist ein fantastisches Spektakel! Feuerwerk ist nix dagegen!
Insgesamt 21 locations in der ganzen Stadt werden einbezogen, doch das absolute Highlight ist die Westfassade der Kathedrale. Sie wird zur Leinwand ihrer eigenen Geschichte.
Wir haben es nicht geschafft, aus den vielen Bildern nur wenige auszusuchen. Es ist einfach zu schön! Deshalb gibt es viele und noch ein paar bewegte obendrein





















In Mainz gab’s sowas letztes Jahr ja auch, aber ich muss wirklich sagen, das hier hat eine ganz andere Qualität! Da müssen die Studis der Hochschule noch an der Präzision feilen.
Auf dem Nachhauseweg kommen wir noch an ein paar anderen Locations vorbei:



Besonders beeindrucken uns die „Lichtspiele“ am Museum der schönen Künste: Sie erzählen die Geschichte von Jean Moulin, einem in Frankreich sehr bekannten Anführer der Resistance im 2. Weltkrieg. Moulin war ein recht hoher und sehr kritischer Beamter, ab 1939 Departements-Präfekt in Chartres. Das Vichy-Regime enthob ihn aller Ämter, woraufhin Moulin unter falschen Identitäten aktiv für den Widerstand kämpfte. Moulin war maßgeblich für die Organisation der Résistance verantwortlich. Im Juni 1943 wurde Moulin von den Nazis gefangen genommen, vom berüchtigten Gestapo-Mann Klaus Barbie „verhört“ und starb an den Folgen der Folterungen und Misshandlungen am Herzversagen – in dem Zug, der ihn ins Konzentrationslager bringen sollte.


Friedvoller und unpolitisch geht es am Wasser zu, wo sich die Lichteffekte durch Spiegelung verdoppeln. Ein Verwirrspiel mit Licht und Farbe.


Wir sind wirklich überwältigt und auch gar nicht traurig, dass wir nicht alles gesehen haben – dafür braucht man mehrere Abende. Besonders schön fanden wir auch, dass es gar kein Gedränge und keine Menschenmengen gab, weil das Ganze ja 9 Monate lang täglich stattfindet! Auch da fällt der Vergleich zu Mainz (oder auch Frankfurt) sehr eindeutig aus! Übrigens hatten wir letztes Jahr in Blois ja auch schon ein großartiges Son et Lumière im Schloss. Das war auch keine singuläre Veranstaltung, sondern eine Dauereinrichtung in der Freiluftsaison. Also Deutschland: Allez!
Wir fallen sehr zufrieden in die Betten und lassen den Samstag gemütlich angehen: Schön frühstücken, Duschen, in die Stadt radeln und einen größer angelegten Geocache machen und am End noch mal zum „Nachsitzen“ in die Kathedrale.




Morgen geht es weiter Richtung Normandie. Nach so viel Sehenswürdigkeiten lassen wir es mal ruhig angehen und fahren „nur“ zu einer France Passion-Station: Eine Brauerei mit Gasthof irgendwo in der Pampa.