Die wilde Seite der Ostsee

Donnerstag, 3. August 2023

Etwas schweren Herzens verlassen wir den netten, einsamen Bodden-Strand in Killingsand und fahren weiter auf der äußerst langweiligen E4 nach Süden. Es hilft ja nix: Das Wech neigt sich sehr schnell dem Ende entgegen und wir möchten einige entspannte Tage an der Höga Kusten verbringen, eine von 3 Weltnaturerbe-Stätten in Schweden. Es ist nicht mehr weit bis zu diesem Küstenabschnitt und brauchbares Wetter ist für heute auch angesagt. Los geht’s.

Wir erreichen unser Tagesziel schon um 13 Uhr: Das Fischerdörfchen Skippsmalen. Und wenn ich Fischerdörfchen sage, dann meine ich das auch so!

Kein norwegisches Touristenspektakel voller Souvenirshops, sondern ein paar rote Holzhäuschen um ein kleines Hafenbecken und feddisch. Ein simples Schild „Välkommen till vart fiskeläge“ – „Willkommen in unserem Fischerdorf „- ist die einzige Reminiszenz an etwaige Gäste. Die Fischräucherei verkauft auf Vertrauenbasis: Die Tür ist offen, man kann sich den Fisch aus dem Kühlschrank nehmen und pro Stück 60 SEK in eine Kasse werfen (blöderweise haben wir kein passendes Bargeld). Ein Souvenirladen ist Fehlanzeige.

Übersichtlich!

Aber es gibt einen kleinen Stellplatz (Campingplatz wäre zuviel gesagt) mit allem was man braucht, ein Restaurant mit einem kurdischen Pizzabäcker, das um 20 Uhr schließt und etwas, das es weltweit nur hier gibt. Das kriegen wir später 😉.

Wir machen uns gleich auf den Weg zu einer kleinen Wanderung über den „Fyrstig“, den Rundweg zum Leuchtturm. Doch nicht der ist die Attraktion, sondern die grandiose Küstenlandschaft !

Der Anfang des Küstensteigs

Höga Kusten heißt „Hohe Küste“. Damit ist aber keine Steilküste gemeint, sondern der Umstand, dass hier das Land während der Eiszeit unter einer besonders dicken Eisddecke lag, demnach besonders tief in den Erdmantel gedrückt wurde und sich nach der Eiszeit auch schneller und stärker gehoben hat, als sonstwo in Skandinavien. Einige Hundert Meter (die Angaben reichen von 285 bis zu 800 🤔) hat das Land bereits von seiner ursprünglichen Höhe zurück erobert und wird das noch ein paar tausend Jahre lang weiter tun. Knapp 300 Meter hohe Berge findet man weiter im Süden und im nahen Hinterland. Durch das geschmolzene Gletschereis ist vor 12.000 Jahren die Ostsee entstanden, eine riesige Pfütze aus geschmolzenem Gletschereis. „Netto“ war und ist die Landhebung aber stärker als das Steigen des Meeresspiegels, die Landfläche n immt zu. An den flachen Küsten verlanden Häfen und Bootsstege, sehr alte Fischerhütten stehen plötzlich viel zu weit vom Ufer entfernt, Inseln bekommen Landverbindung. Und Kiesel, die einst am Strand lagen, findet man heute im Wald. Der Hafen von Skeppsmalen ist in 100 Jahren vielleicht schon ein See.

Landhebungsmodell der Nordic Geodetic Commission (NKG): Angaben in mm pro Jahr
(https://www.lantmateriet.se/en/Maps-and-geographic-information/GPS-and-geodetic-surveys/Reference-systems/Postglacial-land-uplift/)
. Rot markiert: Höga Kusten

Übigens: Wenn sich irgendwo etwas aus der Erdmantel-Suppe hebt, muss sich andernorts etwas senken. Das ist, wie wenn 2 Menschen auf einem weichen Sofa sitzen: Wenn der eine aufsteht und das Sofapolster sich wieder nach oben hebt, hockt der Nebenmann dafür umso tiefer. Im Zug der skandinavischen Landhebung sinkt zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. Das hat wiederum zur Folge, dass in der südlichen Ostsee der Meeresspiegel um bis zu 3 mm pro Jahr steigt. Eine komplizierte Sache, also! Und es zeigt mal wieder, dass Naturphänomene nie isoliert betrachtet werden dürfen, sie beeinflussen sich wechselseitig. Im Fall der Ostsee schwankt durch die ganze Heberei und Senkerei zum Beispiel der Salzgehalt so sehr, dass viele Lebewesen sich kaum darauf einstellen können. Hier ein lesenswerter Artikel über die Entstehung und die Probleme des Binnenmeeres Ostsee.

Skagsudde-Granit

Hier an der Höga Kusten kommt nun kein feiner Sandstrand ans Tageslicht, wie vielleicht anderswo: der hiesige eiszeitliche Boden besteht aus Granit, speziell hier eine ganz besondere Art mit großen rechteckigen Einsprengseln von Kristallen aus Kaliumfeldspat. Sie bilden die Küste, die Schärengärten, Inseln und auch gefährliche Riffe, die schon manchem Seefahrer zum Verhängnis geworden sind, auch in neuerer Zeit!

Seeunglücke

Ich höre jetzt auf schriftlich zu quatschen und lasse einfach mal die Bilder sprechen:

Diese Steine sind aus dem tauenden Gletscher geplumpst, wurden später an die Küste gehoben, durch die Brandung rund geschliffen und liegen heute viel weiter oben.

Die Ostsee zeigt sich hier wirklich von ihrer wilden Seite, die Brandung rauscht und klatscht an die Felsen, Wellen brechen, Gischt glitzert im Sonnenlicht.

Wir hocken uns auf die glatten, warmen Felsen dicht über dem Wasser und schauen zu und können kaum glauben, dass das die zahme Ostsee ist, der geflutete Sandkasten, der nach-eiszeitliche Brackwassertümpel!

Dies Bild ist auf der Tafel am Beginn des Küstensteigs abgebildet, ein Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert. Es zeigt, wie die Menschen im Winter auf dem zugefrorenen Bodden Robben jagen und mit Pferde- oder Rentierschlitten hinüber fahren (hier die Finnen nach Schweden). Viele schöne Details, deshalb soll das Bild hier in den Blog!

Wir sind sehr glücklich und dankbar, dass wir diese fantastische Landschaft bei so herrlichem Wetter erleben können! Daran ändert auch Volkers Drama-Bild nix. Das ist alles Trug!

Wieder zurück im Dorf, testen wir das örtliche Bier und werfen dann noch einen Blick auf die eingangs angekündigte globale Sensation: Das einzige Museum weltweit*, das sich einer regionalen Spezialität widmet, nämlich dem Surströmming, dem sauren Hering.

*Leider stimmt das nicht ganz, denn das Inselmuseum Ulvön widmet dem Gammelfisch eine Ausstellung und auch in den „Disgusting Food“-Museen in Malmö und Berlin ist der Surströmming vertreten.

Der Fisch wird in Salzlake eingelegt und beginnt durch Milchsäurebakterien zu gären. Das tut er auch noch, nachdem man ihn in Konservendosen verpackt, deren Boden und Deckel sich bedenklich wölben können.

Das wäre nun nicht weiter bemerkenswert, würden nicht aus der Zusammenarbeit von Milchsäurebakterien und totem Hering – anders als beim wohlriechenden Sauerkraut – geradezu bestialische Gerüche entstehen: faule Eier seien Parfüm gegen den Gestank einer frisch geöffneten Dose Surströmming 🤢😖.

Das einzige Restaurant (Schwedens? weltweit?), das sauren Hering serviert, tut dies in einer kleinen, abgetrennten Hütte außerhalb!

Schmecken soll die eigenartige Spezialität der Höga Kusten köstlich. Man muss !!! (nicht darf, kann, soll) die Dose unter Wasser öffnen und den Fisch eine Stunde in Wasser legen. 😏

Traditionell wird Surströmming mit kalter Milch, Aquavit oder Bier serviert (oder heruntergespült 😂).

Und noch ein fun fact: Der Transport von Surströmmingdosen ist wegen Explosionsgefahr auf Flügen von British Airways und Air France verboten. Ich nehme an, geöffnete Dosen dürfen auch nicht in den Flieger.

Das hiesige Museum war aber geruchsneutral – kein echter Surströmming zu erleben.

Die Strecke war einfach heute, von Killingsand (A) nach Skeppsmalen (B), 175 km in 3:15 Stunden.

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