Größer, höher, älter, schöner: Im Städtchen der Superlative

Fritzlar, 10. bis 13. März 2022

Donnerstag Mittag beziehen wir Quartier an der Stadtmauer im nordhessischen Fritzlar. Das liegt so ungefähr auf dem Heimweg, hat einen gut bewerteten WoMo-Stellplatz und viele Geocaches. Das sind die Auswahlkriterien, vom Rest lassen wir uns überraschen. 

Stellplatz Fritzlar. Im Hintergrund der Graue Turm

Und überraschend ist es hier allemale: Fritzlar ist alles andere als ein schnarchnasiges Beinahe-Dorf, sondern ein quicklebendiges Kleinstädtchen mit viel Flair und Geschichte – und das mit nur 10.000 Einwohnern (in der Kernstadt). Und FZ wartet mit einigen Superlativen auf 😮.

Neben dem ersten stellen wir den HoGo ab: Der Graue Turm, Teil der alten Stadtbefestigung, ist mit stolzen 38,50m Deutschlands höchster Wehrturm (leider zurzeit geschlossen). 

Wir machen zuallererst einen Spaziergang entlang der knapp 3 Kilometer langen historischen Stadtmauer, die auch fast komplett erhalten blieb inklusive 9 der ehemals 30 (!) Wehr- und Warttürme. 

Da muss jemand ziemlich Angst vor jemand anderem gehabt haben! Warum Fritzlar so stark befestigt war …. das kriegen wir später.

Zuerst geht’s wie gesagt immer an der Wand … ähh … Stadtmauer entlang, durch enge Gassen bis fast runter zur Eder und wieder hinauf.

Man sieht aber nicht nur Schönes. Ausßerhalb und unterhalb des Stadtkerns sind einige Häuser marode, verlassene Geschäfte mit blinden Schaufenstern, Mauerblümchen sozusagen. Dazwischen aber auch immer wieder „Perlen“.  

Als wir rum sind, lenken wir unsere Schritte Richtung Marktplatz, je näher man dem Kern der Stadt kommt, um so repräsentativer wird es und schon stehen wir am Superlativ Numero 2, Nordhessens größtem Fachwerkhaus. 5 Stockwerke hoch, 33m x 12m das Haupthaus.

Die Fachwerketagen wurden 1580-1590 auf den Steinsockel eines ehemaligen Klostergebäudes aufgesetzt. Es war dann ein sogenanntes Hochzeitshaus, in dem rauschende, mehrtägige Hochzeiten und anderes gefeiert wurde. Genutzt wird es heute als Museum, wird aber noch saniert und ist daher leider zu.

Als wir kurz drauf schließlich den Marktplatz erreichen, klappt uns dann endgültig die Kinnlade runter: 

Manche sagen, dies sei  der schönste Marktplatz Deutschlands und auch wenn das natürlich subjektiv ist, wird niemand bezweifeln, dass wir es hier zumindest mit einem Fachwerkensemble zu tun haben, das unter den Top 10 rangiert.

Alles ist schick, aber nicht rekonstruiert, wie häufig anderswo (wir erinnern uns an Nürnberg oder Dresden). Fritzlar wurde im 2. Weltkrieg glücklicherweise nicht zerbombt. Natürlich hat sich die Stadt und mit ihr der Marktplatz im Lauf der Zeit verändert, durch Kriege, Brände, Abriss und Neubau, und in den letzten Jahrzehnten wurden die Häuser saniert und restauriert. Und vom Marktplatz verschwinden in den 70er Jahren endlich auch Busse und Autos.  

Vor ca. 70 Jahren

Auch kulinarisch hat der Marktplatz eine große Vielfalt zu bieten, wir kehren ein im originellen Café Hahn, das ein weltoffener, kunstbeflissener Holländer namens Cor van Leuuwen (nebst Hund Charlie) führt: Bunt, fröhlich, lustig und lecker! Wir nehmen das Dinner surprise und werden mit ganz vielen Köstlichkeiten verwöhnt – interkulturell: Holländische Tapas in Nordhessen.

Am Freitag morgen heißt es früh in die Puschen kommen – also was wir so „früh“ nennen: Um 10.30 Uhr müssen wir am Rathaus sein, da beginnt die Stadtführung. Die wird hier jeden Tag, ohne Voranmeldung von der Stadtführergilde angeboten. Ein toller Service für so eine kleine Stadt!

Vorher kommt noch ein Videoanruf von Fenja, die leider nichts Schönes zu berichten hat: Omikron hat zugeschlagen, Abis Bruder hat einen positiven PCR-Test und am nächsten Tag wird aus der Befürchtung Gewissheit: Abi hat‘s auch erwischt. Kopfweh, Gliederschmerzen, Husten und vor allem „platt“ 😷🤒🤧🥺. Fe und Soso geht es gut und wir hoffen, dass das auch so bleibt. Daumen drücken ✊🏼✊🏼✊🏼. Unseren geplanten Besuch canceln wir natürlich 🙁.

Aber auch in dem Fall gilt: Kopf hängen lassen und Trübsal blasen hilft niemandem, also auf zur Stadtführung. Treffpunkt ist das Rathaus, schon wieder ein Superlativ, denn es ist das älteste, durchgehend als Amtshaus/Rathaus genutzte Gebäude seiner Art: Seit 1109 werden von hier die Geschicke der Stadt bestimmt. Und ein prachtvoller Bau ist es allemal auch. 

Gleich nebendran lehnt sich das kleine Spitzenhäuschen an seine Nachbarn: Krumm und schief, weil man irgendwann mal zwei Kellerwände rausgehauen hat, woraufhin sich die Nordseite bedenklich absenkte. Aber wie das bei Fachwerkhäusern so ist: Die halten einiges aus, bevor sie zusammenstürzen. Heute nennt man das Skelettbauweise 🤷‍♀️👌.

Heute ist hier die Tourist-Info untergebracht

Die Stadtführung ist fein und klein: wir, ein weiterer Tourist und Frau B.  von der Stadtführergilde. Sie macht das wirklich gut und die 90 Minuten vergehen wie im Flug.

Das Wichtigste in Kürze: Fritzlar geht auf eine Kirchen- und Klostergründung des Hl. Bonifatius zurück. Er ließ weiland 723 hier (oder im benachbarten Geismar, ma waas es net) ein heidnisches Heiligtum zerstören: unter dem Schutz fränkischer Soldaten – sicher ist sicher – fällte er die Donareiche, woraufhin …. nichts geschah. Kein Blitz ⚡, kein Donner, kein Gottesurteil. So bewies er den einheimischen Chatten, dass es mit ihrem Donnergott nicht weither sein konnte, woraufhin diese sich taufen ließen und zu Christen wurden. Aus den Chatten – gesprochen „Katten“ – wurden möglicherweise durch Lautverschiebung die „Hessen“. So wäre Fritzlar gar die Wiege Hessens.

Aus dem Holz der Eiche ließ Bonifatius eine kleine Kirche bauen und dem Heiligen Petrus weihen, gründete ein Benediktinerkloster und setzte seinen Kumpel Wigbert als Abt ein. Dies gilt als Anfang des heutigen Doms und der Stadt Fritzlar. 

Modell im „Paradies“, der Vorhalle des Doms

Der Dom in seiner heutigen Form geht zurück in romanische Zeit, ständig wurde dran herumgebaut und erweitert. So hat das Langhaus im Norden romanische, im Süden hingegen gotische Fenster. Über die Krypta setzte man einen gotischen Archivraum und obendrauf um 1600 noch eine Etage aus Fachwerk.

Schön ist die uralte Krypta, wo der Hl. Wigbert begraben liegt, ein schlichter, würdevoller Ort der Ruhe.

Vor einigen Jahren, hat Papst Johannes Paul II. den Dom zu einer „Basilica minor“ ernannt, das ist ein Ehrentitel für besondere Kirchen, die aber kein Bischofssitz sind. Deshalb prangt über dem Hauptportal das Wappen des jeweils aktuellen Papstes – heuer Franziskus – und innen steht neben dem Altar ein bunter Schirm, der wie ne Stehlampe aussieht, aber ein Symbol des Papsttums ist. Frau B. erzählt, dass der Schirm genutzt würde, um den Papst, käme er denn mal zu Besuch, darunter in den Dom zu geleiten und danach würde er zugeklappt. 

Neben dem offensichtlichen Titel einer Domstadt darf sich Fritzlar auch Kaiserstadt nennen, denn viele Herrscher kamen hier vorbei. Karl der Große ließ gar eine Kaiserpfalz bauen. Die gibt es aber nicht mehr. Auch später wurden Reichstage in Fritzlar abgehalten, der bedeutendste im Jahr 919, auf dem Heinrich I. vom Herzog der Sachsen zum König des ostfränkischen Reichs befördert wurde.
Auch Heinrich der IV. – nennen wir ihn den Canossa-Heinrich – war oft in Fritzlar. 

Ein kleiner Exkurs zu Heinrich dem I.: Er gilt ein wenig als Begründer des Deutschen Reiches und als erster „deutscher“ König. Bald nachdem das Frankenreich unter den Enkeln Karls des Großem aufgeteilt wurde in West-, Mittel-und Ostfränkisches Reich, geht es in Letzterem bergab: Der Einfluss der karolingischen Herrscher verblasst zusehends vor dem Stammesbewusstsein der sächsischen, schwäbischen, bayerischen und lothringischen (ja, das gehört auch dazu!) Adligen, die sich untereinander nicht grün sind. Allerdings wird das Reich von außen z.B. durch die Ungarn bedroht, es macht also Sinn, sich unter einem gemeinsamen König dagegen zu stellen. Nachdem mehrere Herrscher an dieser Konstellation gescheitert sind, versucht man es 919 mit dem sächsischen Herzog Heinrich. Und dieser reüssiert sowohl außen- als auch innenpolitisch: Nach innen lässt er die Herzöge schalten und walten, solange sie sich seiner Heerführerschaft unterstellen. Damit gelingt es ihm, diese zu einen und das Reich nach außen gegen seine Feinde zu verteidigen. Eine „Königsherrschaft ohne Staat“.

Diese Herrschaft teilt Heinrich dann nicht, wie üblich, unter seinen Nachkommen auf, sondern überträgt sie nur einem Sohn: 936 wird Otto I., genannt der Große, König des ostfränkischen Reichs. Mit seiner Krönung zum Kaiser beginnt 962 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das bis 1806 Bestand haben wird.

Wenn man durch die Stadt geht, fällt einem – naja, zumindest uns – auf, dass sehr häufig ein Wappen zu sehen ist, dass dem Mainzer Rad zum Verwechseln ähnlich sieht. Kein Wunder: Es ist das Mainzer Wappen. Bonifatius wird nämlich um 746 Bischof von Mainz und alle seine Gründungen gehören dann irgendwie automatisch auch dazu. Das kirchliche Erzbistum Mainz hat um 1000 eine riesige Ausdehnung, es reicht von Chur in der Schweiz bis fast hoch nach Bremen und im Osten weit über Prag hinaus. Um 1500 reicht es immer noch von Kaiserslautern im Südwesten bis nach Göttingen und Erfurt im Nordosten.

Zu Kurmainz, also dem weltlichen Kurfürstentum Mainz, kommt Fritzlar durch eine Schenkung von Heinrich IV. so um 1060. Dieses Kurmainz ist aber kein zusammenhängendes Gebiet, sondern ein Fleckenteppich aus kleinen und größeren Regionen, in denen der Mainzer Erzbischof=Kurfürst das Sagen hat. Fritzlar gehört zu Kurmainz bis zu dessen Auflösung 1803.

Auf Grund ihrer Lage im Grenzgebiet ist die Stadt immer wieder Anlass, Ausgangspunkt oder Ort kriegerischer Auseinandersetzungen – zwischen Sachsen und Franken, Mainz, Hessen und Thüringen, zwischen geistlichen und weltlichen Herren und zwischen katholischen und protestantischen Fürsten. Und auch überregionale Kriege wie der 30-jährige oder der 7-jährige Krieg ziehen Fritzlar in Mitleidenschaft. Es wird häufig belagert, mehrfach erobert und gebrandschatzt, aber immer wieder neu aufgebaut. Und so erklärt sich denn auch der wehrhafte Charakter des Städtchens.

Blick ins Tal der Eder. Von hier zum Edersee sind es ca. 20 Kilometer.

Wir ziehen kreuz und quer und quer und kreuz durch die Altstadt, immer auf der Suche nach Antworten … fürs Geocaching. Und nach geistigen Getränken 😋.

Am Abend gibt es für mich wieder Let‘s dance, diesmal von der platzeigenen Satellitenschüssel. Das hatten wir auch noch nicht. Eine Gemeinschafts-SAT-Antenne mit 8 Anschlüssen auf dem Stellplatz. Sieht man oben auf dem ersten Bild in diesem Beitrag. Hat super geklappt: Kabel rein, läuft 📺.

Am Samstag satteln wir die Fahrräder. Wir wollen ins benachbarte Gudensberg fahren, das von der Autobahn aus mit einer hoch über dem Ort thronenden Burg einen imposanten Eindruck gemacht hat. Vorher „erledigen“ wir ein paar wenige „Restarbeiten“ und haben so die Koordinaten von 6 Finaldosen in der Tasche, die es einzusammeln gilt. Eine holen wir sofort, zwei auf dem Weg nach Gudensberg, zwei nach der Rückkehr und zur letzten fahren wir morgen mit dem HoGo.

Gudensberg, was soll man dazu sagen? Es kann ja sein, dass wir die schönsten Ecken der Stadt verpasst haben, aber sehr viele davon kann es nicht geben, denn wir haben den sehr kleinen Ort schon ganz ordentlich durchstreift. Ziemlich tote Hose 😴. 

Natürlich sind wir hoch zur Ruine der Obernburg gestiegen, und von hier hat man fürwahr einen herrlichen Ausblick.

Beim Aufstieg kommen wir an Häusern vorbei, in denen sicherlich nicht die wohlhabenden Menschen Gudenbergs leben. Kleine, am Berghang übereinandergestapelte Häuser mit alten Fenstern, dunkel, enge Gassen. Ihre Bewohner sitzen rauchend und telefonierend auf ihrer Eingangstreppe oder im Unterhemd neben der Tür. Einer hat ein Schild aufgestellt: Widerlich hingestellte Fahrzeuge werden verschrottet“ 😂😂😂. Teilweise hat das für mich so ein bisschen Slum-Charakter. Dann aber gibt es ganz viele Hinweistafeln an historischen Gebäuden, einen „Lesepfad“ und Kunstobjekte. Widersprüchlich.

Markant sind die meist sanft gerundeten Berge, die oft kreisrund und mutterseelenallein in der Landschaft stehen. Basaltkuppenlandschaft nennt man das und die Berge müssen wohl ehemalige Vulkane sein. 

Wir finden tatsächlich eine Eisdiele, wo wir einkehren können, fahren aber dann gerne wieder zurück nach Fritzlar. Da kann Gudensberg auf seiner schönen Website sich noch so vorteilhaft präsentieren, in natura haben wir davon nicht viel gesehen. 

Wir kehren im Haus Nägel am Markt auf ein letztes Glas Wein in Fritzlar ein, denn morgen geht es wieder zurück nach Hause. Übrigens – Wein wurde hier seit dem 8. Jahrhundert am Steilhang zur Eder hin angebaut, wie überhaupt in ganz Nordhessen. Ab dem 16. Jahrhundert ließ das aber nach, wahrscheinlich trug schon damals die Globalisierung dazu bei, dass man Wein von dort importierte, wo er besser gedieh. Heute noch gibt es nur wenige Kilometer weiter den „Böddinger Berg“, den (ehemals) nördlichsten Weinberg Hessens, der als Exklave zum Rheingau gehört. Und aktuell nimmt der Weinbau in Nordhessen wieder „Fahrt“ auf.

Abschiedsfoto vom „Malerwinkel“ aus

Fazit

Das waren sehr, sehr schöne zweieinhalb Wochen, die mal wieder beweisen, welche schöne, interessante, sehens- und liebenswerte Orte es doch in Deutschland gibt. Das Wetter hat uns zwar die kalte Schulter gezeigt, aber auch mit ganz viel Frühlings-Sonnenschein verwöhnt. Die paar Wölkchen könnte man wohl an zwei Händen abzählen.

Neben den sehenswerten Dingen haben wir durchwegs sehr freundliche und mitteilsame Menschen getroffen. Die Ostwestfalen kommen uns alles andere als stur und wortkarg daher. 

Kommt ein Ostwestfale in eine Kneipe mit einem Papagei auf der Schulter.
„Spricht der?“, fragt daraufhin ein Gast.
„Keine Ahnung“, sagt der Papagei, „ich habe ihn noch nicht sehr lange.“

Überschattet wurden die Tage sicherlich durch den schrecklichen Überfall Putins auf die Ukraine. Das ging nicht nur uns so, jede/r die/den wir trafen – und sei es eine flüchtige Begegnung – zeigte seine Betroffenheit. So rücken die Menschen zusammen und es tut gut, sich dieser Solidarität zu vergewissern – für die Menschen in der Ukraine und für uns selbst. Denn wer hätte keine Angst und Sorge? Wir haben uns dann tagsüber eine „Nachrichtensperre“ auferlegt, um nicht ständig mit neuen Schreckensmeldungen und Spekulationen überhäuft zu werden. Abends Nachrichten und fertig. Man muss ja irgendwie den Kopf freikriegen und trotz allem bei Laune bleiben. 

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