20.-21. Juli 2023: Hammerfest
Ich dachte ja schon, wir kommen wieder nach Hause, ohne ein einziges Rentier fotografiert zu haben! Aber dieses Damoklesschwert hängt jetzt nicht mehr über uns 🙏!
Aber der Reihe nach! Wir machen uns nach einer (wie zu erwarten) ruhigen Nacht wieder auf die E6 und biegen nach einer Stunde links ab zu einem Abstecher nach Hammerfest. Wo wir schon Narvik ausgelassen haben, soll es wenigstens ein Tag in Hammerfest sein.
Die Strecke führt von der Hochebene entlang des Repparfjordelva, der zurzeit wenig Wasser führt. Aber wohl schon genug für Fische, denn immer wieder sieht man Angler am Ufer stehen. Auch kommen uns viele PKW entgegen, an denen Angeln wie riesige Antennen außen am Auto befestigt sind. Sieht verwegen aus!
Als wir über die mächtige Brücke auf die Insel Kvaløya Fálá fahren, weist uns ein Schild darauf hin, dass wir uns ab jetzt in einem Rentierzuchtgebiet befinden. Nun aber! Von der Insel können sie ja nicht runter!
Hier also unsere heutige Sammlung an Rentieren zusammen mit ein paar Informationen!
Das Rentier ist ein Hirsch. Es lebt in den kalten Regionen um den Nordpol, also auch in Asien, Grönland und Nordamerika. In Amerika heißt es nicht Rentier, sondern Karibu, ist aber die gleiche Art. Das Fell ist im Sommer grau-braun, im Winter sehr hell, fast weiß. Dieses Rentier zieht gerade seine Winterklamotte aus, da kann man die Farbe vergleichen.
Männlein wie Weiblein tragen Geweihe, die der Männchen sind größer. Die Geweihe werden einmal im Jahr abgeworfen und wachsen dann neu. Die Rentiere die wir sehen, haben alle Bast am Geweih, das ist die Haut, die den wachsenden Knochen versorgt. Ist das Geweih ausgewachsen, trocknet die Haut aus und wird abgefegt.
Das Rentier lebt auf großem Fuße: Die Klauen können weit gespreizt werden und hinten hat der Huf noch eine dritte (After)klaue. Die Hufe haben scharfe Kanten, das gibt im Winter guten Grip auf Eis und das Ren kann damit gut scharren.
Rentiere paaren sich im Oktober, ein Männchen mit einem ganzen Harem, wie es bei Hirschen üblich ist. Im Mai oder Juni kommt das (einzige) Junge zur Welt. Das kann sich nicht lange ausruhen, sondern muss gleich mit den Großen mitlaufen. Rentiere werden etwa 15 Jahre alt.
Das Rentier ist genügsam, im Sommer frisst es alles Grüne, was es finden kann, am liebsten Gras. Im Winter stehen Flechten und Moose auf dem Speiseplan.
Rentiere sind Wandersleut‘. Zum Winter hin wandern sie nach Süden, wo es weniger Schnee und Eis gibt, im Frühjahr wieder nach Norden. Da kommen gern mal 1.000 Kilometer zusammen. Für die Wanderungen bilden sie riesige Herden (in Alaska bis zu einer halben Million Tiere 😲), die sich in kleinere Grüppchen auflösen, wenn sie am Ziel angekommen sind.
Das Ren ist die einzige Hirschart, die domestiziert wurde. Aber nur halb – Rentiere sind keine Kuscheltiere, auch wenn sie den Anblick von Menschen gewöhnt sind. Ich schätze die Fluchtdistanz auf ca. 5 Meter. Hier war Volker schon recht dicht dran, war dem Tier egal.
Vor Autos haben Rentiere keinen sonderlichen Respekt und auch nicht vor Straßen.
Rentiere werden seit tausenden von Jahren vom Menschen als Lieferant für Fleisch, Fell, Knochen, Sehnen genutzt. Man kann sie an den Menschen gewöhnen und auch in lebendiger Form nutzen, als Milchlieferant und als Last- und Zugtier, wie das bekanntlich der Weihnachtsmann tut. Man kann ihnen aber ihre Wanderlust nicht abgewöhnen, sie also nicht wirklich in Gefangenschaft halten. Daher haben sich die Rentier“züchter“ an die Lebensweise der Tiere angepasst und ziehen ihnen hinterher. Das tun zahlreiche indigene Völker des Nordens, in Nord-Skandinavien und dem angrenzenden Russland sind es die Samen.
Heute gibt es weltweit etwa 4 Millionen wilde und 3 Millionen domestizierte Rentiere. Drei Viertel der wilden Rentiere leben in Nordamerika, mehr als drei Viertel der domestizierten Rentiere in Sibirien.
Sodele, jetzt wissen wir erst mal genug über diese Zeitgenossen. Die abgebildeteten Tiere haben wir über den Tag verteilt gesehen, man könnte auch sagen, sie sind uns über den Weg gelaufen.
Wir kommen gegen 13 Uhr in Hammerfest an und entscheiden uns für einen kleinen Campingplatz etwas außerhalb.
Der Wetterbericht kündigt für den Nachmittag/Abend zunehmend Regen an, also beeilen wir uns, holen die Fahrräder runter und machen uns auf zu etwas ganz Berühmtem, von dem wir noch nie gehört haben. Die Eile wird aber jäh unterbrochen 1. durch Rentier Nummer 3 und 2. und mehr noch durch eine 55-jährige Lehrerin aus Vardø, die jetzt an der Grenze zu Schweden wohnt, deren Mutter diesen Winter gestorben ist (Vater lebt da noch), die zwei Schwestern hat, mit denen sie es unter einem Dach aber nicht aushält und die hier mit ihrem weißen Schäferhund Urlaub macht lufthol. Auch wissen wir, dass ihr Handy wohl mal runtergefallen ist, denn das Display ziert ein Riss. Der hält sie aber nicht davon ab, uns sämtliche – s ä m t l i c h e – darauf befindlichen Fotos ihrer Vaterstadt zu zeigen, jede noch so kleine Sehenswürdigkeit, sommers wie winters. Da kann der Hund noch so sehr an der Leine zerren, da müssen wir alle durch 🤣. Es ist ja auch wirklich liebenswert, aber schon auch etwas skurril. Passt genau in Volkers Schema „alleinstehende Frau mit Hund“. Den Hund haben die Frauen nach dieser Theorie nur, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Daher ist er (der Hund) im Idealfall auch schlecht bis gar nicht erzogen. Das erhöht die Anzahl potenzieller Gesprächssituationen. Gut – hier war das Reni der Auslöser, aber ich finde, da ist was dran!
Nun aber wirklich, bevor der Regen kommt! Das rätselhafte Objekt, das wir ansteuern, ist ebenfalls ein UNESCO Welterbe, obwohl man es weder anfassen, ja noch nicht einmal sehen kann. Dafür wird diesem Welterbe an vielen Stellen gehuldigt, vier in Norwegen und noch sage und schreibe weitere 30 bis in den äußersten Südwesten der Ukraine. Eigentlich müssten es sogar 265 sein!
Wir hätten mit diesen Informationen so gar keinen Plan gehabt! Noch nicht mal mit seinem Namen: Es ist der Struve-Bogen. Hä??? Man nennt ihn auch den skandinavisch-russischen Meridianbogen, was ebenfalls nicht zu Geistesblitzen führt. Also müssen wir nachschlagen!
Zunächst einmal: Ein Meridianbogen ist eine in Nord-Süd-Richtung, entlang eines Längengrads (Meridians) verlaufende Messstrecke auf der Erdoberfläche. Er bezieht also die Erdkrümmung mit ein. Deshalb ist Entfernung E1 von A nach B über einen Meridianbogen auf der gekrümmten Erdoberfläche länger, als die Entfernung E2, gemessen in der Sicht von oben (Satellit, Drohne). Wenn man beide Längen kennt, kann man die Erdkrümmung ausrechnen und daraus den Erdumfang ermitteln. Bei einem idealen Kreis/Kugel kann man sich viel Aufwand sparen und das über Pi ausrechnen, aber die Erde ist an den Polen abgeplattet und keine Kugel, sondern eher ein Ei (oder eine Kartoffel). Dann muss man erst messen. Nun kann man aber nicht auf einem Längengrad entlanglatschen und ein Maßband hinter sich herziehen. Solche Entfernungsmessungen macht man klassischerweise, indem man einen Punkt von zwei anderen aus anpeilt (Dreieckspeilung) und über die gemessenen Winkel der Dreiecke die Entfernung ausrechnet.
Das ist dann zwar ohne Erdkrümmung gemessen, aber auf kurze Strecken kann man die vernachlässigen. Man setzt dann die gesamte gebogene Strecke (schwarz) aus lauter kleinen geraden Teilstückchen (rot, blau) zusammen. Je kürzer die Stückchen, desto genauer wird das Ergebnis.
OK – man muss dann noch Berge und Täler rausrechnen und die tatsächlichen Messwerte ein wenig geradeziehen, aber das können die Geodäten. Genau das hat man beim Struve-Bogen gemacht und das Ergebnis sieht dann so aus:
Der Herr Struve wurde 1793 in Holstein geboren und studierte Astronomie und Mathematik in Estland. Er war dort Professor und Leiter einer Sternwarte und kannt sich auch mit Geodäsie, der Vermessung der Erdoberfläche, aus. 1816 beauftragte der russische Zar Nikolaus I. eine genaue Vermessung des – damals – westlichen Russland (heute Baltikum), um detaillierte topographische Karten zu erstellen. Den Auftrag in Estland hatte Struve, in Lettland ein gewisser Carl Tenner. Die beiden arbeiteten unabhängig voneinander und als sie sich 1828 das erste mal trafen, beschlossen sie, die Endpunkte ihrer beiden Messreihen miteinander zu verbinden. Sie hatten damit eine Nord-Süd-Strecke über 8 Breitengrade vermessen. Und als sie schon mal so weit waren, überredeten sie den Zaren und später auch die Monarchen von Norwegen/Dänemark, Schweden und Finnland, noch mehr Messungen zu machen, bis der Bogen schließlich mit 265 Messpunkten über 25 Breitenkreise, etwa 2.800 Kilometer, von Hammerfest bis ans Schwarze Meer reichte.
Jahrzehntelang sind die Landvermesser bei Wind und Wetter auf Berge gestiegen, haben Landmarken als Messpunkte festgelegt, gepeilt und gerechnet. Natürlich jede Messung vielfach. Es war eines der ersten wissenschaftlichen Projekte an dem Wissenschaftler aus vielen Nationen beteiligt waren und das sich über mehrere Staatsgebiete erstreckte. Und 39 Jahre dauerte.
Und die Ergebnisse können sich sehen lassen:
Der Struve-Bogen liefert einen Äquatorradius von 6378,3607 km. Messungen mit Satellitentechnik kommen auf 6378,1368 km. Gerade mal 224 Meter daneben. Das entspricht einer Messgenauigkeit von 4 mm auf einen Kilometer. Nur in Norwegen war sie schlechter – da sind ja auch diese vielen, vielen Berge.
Gerade rechtzeitig vor dem fiesen Regen sind wir wieder am Campingplatz und kuscheln uns in den HoGo. Volker wirft die Heizung an 🙄. Damit übergebe ich an den Kartographen und Chefmeteorologen.
Beeindruckend ist das Schietwetter heute Nachmittag und Abend. Aber ab morgen Früh soll es wieder besser werden, sagen zumindest unsere Campingplatzbetreiber. Hoffentlich! Denn am Wochenende möchten wir das Nordkap in der Mitternachtssonne erleben.
Das Freitagswetter ist auch schon versöhnlicher! Der blaue Fleck ist durch, die Tristesse ist heller, nicht mehr gar so kalt und vor allem trocken.
Vor der Abfahrt vom CP fällt Volker ein weißer Hyundai-Campervan, ein Modell, dass es in Europa (noch) gar nicht gibt. Und es hat doch tatsächlich ein südkoreanisches Nummernschild 😲. Und ebensolche Insassen! Die beiden – schätze etwa unser Alter – sind mit diesem Autochen 2 Jahre (Jahre!) in Europa unterwegs. Losgefahren sind sie vor 2 Monaten und durch Sibirien und Russland bis hierher gefahren. Die Straßen seien sehr schlimm!
Auch war mir nicht bewusst, dass man Südkorea gar nicht auf dem Landweg verlassen kann. Hab ich nie drüber nachgedacht. Warum auch 🤷♀️.
Unfassbar, was die zwei älteren Leutchen mit ihrem eher schlechten Englisch und dem winzigen Campervan da abreißen. Respekt! Ich käme nicht auf die Idee, mit dem Wohnmobil nach Südkorea zu fahren. Dann lieber zum Nordkapp!
Doch vorher gilt es noch, Hammerfest downtown einen Besuch abzustatten. TOP 1: Kirke. Ähnelt ein wenig der Eismeerkathedrale, macht aber weniger Gedöns. Und die Lampen hängen vernünftig!
Von der Kirche sind es nur ein kurzes Stück bis zum Beginn des Zick-Zack-Wegs, der auf den Salen, den Hausberg von Hammerfest führt. Der ist erfreulicherweise nur 86 Meter hoch und der Weg entsprechend kurz. Aber steil! Mit uns geht gefühlt die halbe Passagierliste der im Hafen liegenden AIDALuna hoch.
86 Meter reichen völlig aus, um sich einen Überblick über Hammerfest zu verschaffen. Links im Bild die Kirche, in der wir eben waren, dann das Zentrum mit modernen Büro- und Verwaltungsgebäuden und Hotels, der Hafen mit noch mehr Büros, Hotels und Apartmenthäusern. Gewohnt wird außenrum, die Häuser sind meist hübsch und bunt in allen Wand/Dach-Farbkombis die man sich vorstellen kann 🤩.
Auf dem Panoramafoto im Hintergrund rechts sieht man den Vorort Fuglenes. Dort steht das Monument des Struve-Bogens (1. Landzunge) und es gibt dort viel Industrie, unter anderem ein LNG-Terminal (2. „Landzunge“, ist eine Insel). LNG-Tanker liegen im Fjord auf Reede, bis sie dran sind. Auch Deutschland kauft LNG aus Norwegen – vielleicht ja auch aus Hammerfest.
Alte Gebäude sucht man in Hammerfest vergeblich: Die Deutschen haben bei ihrem Rückzug 1945 die Stadt in Schutt und Asche gelegt, um den um den heranrückenden sowjetischen Truppen keine Infrastruktur zu hinterlassen. Der Wiederaufbau dauert bis in die 1960er Jahre. Hammerfest lebt nach wie vor vom Fischfang, aber auch Erdöl und Erdgas spielen eine große Rolle. Jeder namhafte Konzern hat hier eine Niederlassung und viele Geschäftsleute kommen regelmäßig nach Hammerfest. Daher die vielen Hotels und Bürogebäude.
Wir sind mittlerweile wieder vom Berg herunter und schlendern über den Marktplatz, wo in dieser Woche die Hammerfestdagen stattfinden, das alljährliche Stadtfest.
Es gibt hier sogar die Royal and Ancient Polar Bear Society, den Eisbärenklub, in dem jeder gegen eine geringe Gebühr Mitglied werden kann. Er residiert direkt am Hutigrutenanleger und greift da die Touristen ab. Kein Wunder, dass er über 300.000 Mitglieder hat – alles Eintagsfliegen. Auch unser Freund Jupp ist Member. Vor dem Besuch der Website des Clubs warnt uns unser Virenschutz, da gehen wir also lieber nicht drauf.
Pünktlich um 13 Uhr sind wir wieder in der Kirche und lauschen zum Abschied einem halbstündigen Orgelkonzert. Kann man natürlich nicht mit der Steinmeyer-Orgel im Nirosta-Dom vergleichen, aber sehr, sehr schön und ergreifend auch im kleinen Rahmen.
Nach wieder einmal so viel Viel kommt jetzt viel Wenig. Wir fahren nämlich zurück zur E6 und weiter Richtung Nordkapp. Und es wird noch einsamer. Nur das ein oder andere Rentier sorgt für Abwechslung. Die haben wohl gemerkt, dass es sich auf der Straße besser läuft (und steht 😂), als im unebenen Gelände.
Erst als wir den Porsangerfjord erreichen, kommt ein wenig Leben in die Bude – gelegentlich ein Gehöft oder Haus oder mal ein kleiner Hafen mit bunten Fischerbooten.
Und natürlich unsere behuften Freunde, hier eine Junggesellentruppe beim Abhängen „uff de Gass“. Die gehen für heute als Animals of the Day durch. Ab dann sind Renis aber außer Konkurrenz und machen beim AoD nicht mehr mit!
Aber die Landschaft bleibt karg, außer Fels, Wasser und dem in Norwegen allgegenwärtigen Moor gibt es hier nichts. Auch keine Weidenröschen, die uns die letzten Tage mit ihrer knalligen Farbe erfreut haben. Aber auch (oder gerade) ohne Pink, lässt einen die herbe Schönheit der Küste nicht kalt. Wenn ich mir das allerdings bei Regenwetter wie gestern und vorgestern vorstelle, verfliegt der Reiz sofort.
Vereinzelte Häuser sind Farbtupfer im Grün – hier ausnahmsweise sogar mehrere auf einmal.
Und dann erreichen wir das Ende des norwegischen Festlands. Das Nordkapp liegt nämlich auf der Insel Magerøy. Und dahin geht es durch die Unterwelt! Wir fahren auf 212 Meter unter die Meeresoberfläche 😱 – auch wenn man keine Tunnelangst hat, darf man da nicht zu sehr drüber nachdenken.
Im Tunnel sind Radfahrer auf der Fahrbahn unterwegs. Runterzus sausen sie mit ihren schwer bepackten Rädern mit 70 km/h! Hochzus muss sogar der HoGo im Power-Modus schuften. Und dann kommt man nach knapp 7 Kilometern wieder ans Tageslicht … und alles ist wie vorher 😂.
Kurz vor dem Kap, in Kamøyvær, haben wir einen Nortrip-Stellplatz aufgetrieben. Da ist zwar heute kein Ringelpiez mit Anfassen, aber wir dürfen über Nacht bleiben. Sehr schnucklig das ganze Ort! Auch hier setzt man bunte Häuser gegen die doch eintönigen Farben der Umgebung.