Wie im Bilderbuch: Rouen

9.-11. Juni: In der schönen Hauptstadt der Normandie

Von Camping Les Pommeries (F) nach Rouen (G), 79 km

Am Dienstag machen wir uns früh auf den Weg, um auf dem einzigen Stellplatz in Rouen an der Hafenmeisterei des Yachthafens noch ein Plätzchen zu ergattern. Eine gute Idee, wie sich herausstellen soll, denn der Platz ist sehr gut frequentiert. Was ihm an Charme fehlt, macht er durch Komfort wieder wett: Wir können die Sanitäranlagen des Yachthafens nutzen, jeder Platz hat Strom und Wasser und Nachts schützt uns ein massives Rolltor.

Wir machen fix die Fahrräder startklar, denn wir haben viel vor! Und Unerwartetes kommt ja auch immer noch dazu, wie diese Brücke über der Hafeneinfahrt, der Pont Gustave Flaubert, die höchste Hubbrücke der Welt.

Ein beeindruckendes Bauwerk, bei dem auch auf die Ästhetik geachtet wurde. Franzosen halt 🤷‍♀️👍️

Im Normalzustand beträgt die Durchfahrtshöhe zehn Meter, werden die Zwillings-Fahrbahnen hochgezogen, werden daraus 55 Meter! Die beiden beweglichen Fahrbahnteile wiegen je 1.200 Tonnen und werden durch Gegengewichte in den Doppelpfeilern hochgehoben. Das kann man in diesem kurzen Video im Zeitraffer anschauen – dauert in echt 12 Minuten.
Wir haben die Brücke nicht in Aktion gesehen, das kommt auch nur ca. 30 Mal im Jahr vor, wenn z.B. ein Kreuzfahrtschiff durchfährt (ja, die gibt es hier) und während der Armada de Rouen, einer Art Kieler Woche, die alle 4-5 Jahre im September stattfindet.

Am nächsten Tag nachmittags aufgenommen

In die Stadt führt ein komfortabler Fahrradweg am Seineufer entlang der ehemaligen Docks, die zu Bars und Bistros umfunktioniert wurden und wo sich vor allem junge Leute treffen.

Am Ufer gegenüber stehen schicke moderne Gebäude, besonders auffallend dieses hier:

Das Bürogebäude der Métropole Rouen Normandie – eine Art Bezirksregierung

Da kommt uns Mainz (das doppelt so viele Einwohner hat wie Rouen) geradezu schnarchnasig vor! Auch bei den Radwegen und Fahrradstraßen in der Stadt können sich MZ/WI einiges abgucken. Das ist hier schon fast wie in Holland. Zudem halten die Franzosen an jedem Zebrastreifen und an jeder Einmündung, wenn ein Fußgänger oder Radfahrer auch nur in die Nähe kommt.

In der Innenstadt angekommen weicht die Moderne dem „Mittelalter„, richtiger wäre: der frühen Neuzeit, denn das Mittelalter war um 1500 rum. Jedenfalls reiht sich ein Fachwerkhaus ans andere, 2.000 an der Zahl 😯, bunt und wunderschön! Ab und an ist mal ein barockes dazwischen, auch das kann sich sehen lassen.

Im 2. Weltkrieg hatte Rouen „Glück“, es fiel recht früh 1940 in die Hände der Wehrmacht, die größten Schäden richteten später alliierte Bomber an. Etwa 20% des alten Gebäudebestands wurde zerstört, die Kathedrale und der Justizpalast beschädigt. An letzterem sieht man noch heute zahllose Einschläge, der deutsche Künstler Jan Vormann hat mit LEGO-Steinen ein Kunstwerk daraus gemacht. Nachhaltig, denn das LEGO wurde von Kindern aus Rouen gespendet – oder ihnen von den Eltern entwendet, ma waas es net.

Wir steuern als erstes eines der Wahrzeichen von Rouen an, die Gros Horloge an, die Dicke Uhr, über dem Torbogen des daneben befindlichen Beffroi, des Belfrieds oder Stadtturms. Der war das Zeichen der bürgerlichen Macht, enthielt die Stadtglocken und die Wohnung des Türmers, oft auch das Stadtarchiv.

Der Beffroi …
links neben dem Uhrenturm

Den Uhrenturm baute man über die Hauptstraße, die vom Großen Markt zur Kathedrale führt – von der weltlichen zur geistlichen Macht. Da musste jeder drunter durch.

Seit den 1920er Jahren wird die Uhr elektrisch betrieben, das Uhrwerk von 1389 sei aber noch voll funktionsfähig, wird versichert.


Man findet es nicht etwa hinter dem Ziffernblatt, sondern im obersten Stock des Beffroi daneben. Uhr und Gangwerk waren durch Gestänge verbunden – die gibt es aber nicht mehr.

Von den oberen Stockwerken des Turms hat man schöne Blicke in die bunte Rue de l’Horloge und auf so manches Detail der Dicken Uhr.

Einen Rundumblick über die ganze Stadt hat man am End auf dem winzigen Umgang um die Turmspitze – aber da kriegen mich keine 10 Pferde drauf, nur durch bissi Holz und einen Maschendrahtzaun vom Abgrund getrennt! Mir wird schon schwindelig, wenn ich nur das Bild anschaue 😵‍💫.

Hier sieht man rechts unser morgiges Ziel: Die Kathedrale Notre Dame de l’Assomption (Himmelfahrt).

Nach so viel wendeltreppauf und -ab haben wir uns eine Stärkung verdient. Die kriegen wir gleich nebenan in der Rue Massacre – der martialische Name bezieht sich auf die Vergangenheit: hier waren früher die Schlachter. Heute finden wir zum Glück eine bezaubernde kleine Crèperie mit leckeren Galettes zu zivilen Preisen.

Überhaupt: Verhungern kann in Rouen keiner. Bei über 250 Restaurants ist für jeden etwas dabei. Rouen hat sogar 2021 von der UNESCO die Auszeichnung ville créative de l’Unesco (UNESCO creative cities) im Bereich Gastronomie erhalten. Und in der Tat ist hier am Abend jedes Lokal gut besucht, es brummt so richtig vor Gesprächen – man merkt es, wenn man um die Ecke geht und plötzlich alles verstummt.

Der Gemüsepalast 😋

Ein wenig zur Geschichte von Rouen: Hier siedelten schon Steinzeitmenschen, später die Kelten und Römer. 841 wurde Rouen erstmals von Wikingern überfallen – den Nordmännern oder Normannen. Der französische König gab schließlich klein bei und Jarl Rollo erhielt die Grafschaft Rouen zum Lehen, daraus wurde später die Normandie. Rouen wurde und ist bis heute Hauptstadt.

Rollos Nachfahren, die Herzöge der Normandie waren seit Wilhelm dem Eroberer 1066 zugleich Könige von England, bis 1204 Johann (der Bruder von Richard Löwenherz) seine französischen Besitztümer im Krieg an den französischen König verlor, was ihm den Beinamen Ohneland einbrachte. Die Engländer nennen ihn John Lackland, die Franzosen Jean Sans Terre.

Im Hundertjährigen Krieg eroberte Heinrich V. 1419 Rouen und unterstellte die ganze Normandie der britischen Krone. Das wohl dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte wurde 1431 geschrieben: Jeanne d’Arc, Johanna von Orléans wurde in Rouen der Prozess gemacht und am 30. Mai hat man sie auf dem Marktplatz bei lebendigem Leib verbrannt.

Heute stehen dort eine kleine Gedenktafel und ein riesiges Kreuz und nebendran eine beeindruckende Kirche zu Ehren von Jeanne d’Arc.

Die Kirche ist außen einem Fisch nachempfunden, innen einem Wikingerschiff und ich muss nach dem Betreten einmal ganz tief Luft holen – denn das ist wirklich atemberaubend! Die komplette linke „Wand“ ist in leuchtende Glasfenster aufgelöst und darüber schwingt sich eine kühne Holzkonstruktion, einem Schiffsrumpf ähnlich. Über eine Treppe gelangt man in den etwa 2 Meter tiefer liegenden Innenraum, wo schlichte Holzbänke mit bunten Kissen im Halbkreis angeordnet um den Altar stehen.

Die schlichte und ergreifende Skulptur von Jeanne d’Arc

Bis 1970 standen an Stelle dieses beeindruckenden Bauwerks die Markthallen von Rouen, der Platz heißt immer noch Place du Vieux-Marché, die Rouennais sagen einfach „Le Vieux“.
Gegenüber der Kirche reiht sich ein Gasthaus ans andere, unter anderem das älteste Restaurant Frankreichs, La Couronne – Die Krone – von 1345.

Wir haben für heute genug erlebt und radeln zurück zum Stellplatz. Den Rest kriegen wir morgen.

Der Mittwoch begrüßt uns mit strahlendem S☀️nnenschein! Heute steht die Kathedrale auf dem Programm. Dank der 151 Meter des Vierungsturms ist es die höchste Kathedrale Frankreichs.

Letztes Jahr hat der Vierungsturms gebrannt und trägt nun bis zur endgültigen Reparatur einen Stützverband.

Wie so oft entstand die Kathedrale aus einem Vorgängerbau, was der spätromanische linke Turm noch erahnen lässt. Ab 1180 baute man einen neuen Chor, 100 Jahre später wurde das Kirchenschiff erneuert und 1450 war die Westfassade fertiggestellt. Damit bekam die Kathedrale auch einen hochgotischen Südturm, der farblich nicht zum Rest der Kathedrale passt: Die lokalen Steinbrüche gaben nix mehr her, man musste Steine importieren. Aber nicht nur die Steinbrüche, auch die Kassen waren leer.

Der Butterturm

Dieses Problem löste man mit dem „Fastenalmosen“: Der Verzehr bestimmter Lebensmittel wurde als Sünde deklariert, wollte man sie trotzdem essen, musste man eine Gebühr entrichten 🤷‍♀️. In Rouen kamen Milchprodukte inklusive der guten normannischen Butter auf den Index. Von den Mehreinnahmen der „sündhaft teuren“ Butter wurde der Turm finanziert, was ihm den Spitznamen „Butterturm“ einbrachte.

Ganz fertig wurde der Turm nicht: Wie bei so vielen gotischen Kirchen in Frankreich fehlt die Turmspitze. Hauptgrund war Geldmangel, gepaart mit nachlassendem Interesse (der Bau dauerte ja meist sehr lange) und manchmal auch technische Probleme: Die Dinger stürzten ein.

In der Kirche liegt der Wikinger Rollo, der erste Herzog der Normandie begraben und Richard Löwenherz ließ angeblich sein Herz in Rouen beisetzen. 

Richard Löwenherz ist gleich dreimal beerdigt: Gehirn und Eingeweide wurden in Poitou beigesetzt, das Herz in Rouen, der restliche Körper in der Abtei Fontevraud neben seinem Vater. Kann man so machen. 
Von Geak – Eigenes WerkOriginaltext: Selbst fotografiert, Copyrighted free use, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43199719

Richard Löwenherz kennt man gemeinhin als König von England, er herrschte aber mit dem angevinischen Reich auch über große Teile Westfrankreichs und die Normandie und war in seinem ganzen Leben überhaupt nur wenige Monate in England – erstmals zu seiner Krönung 1189. Danach machte er sich fix auf zum 3. Kreuzzug und wurde auf der Rückreise im Dezember 1192 vom österreichischen Herzog Leopold gefangen genommen, mit dem er sich auf dem Kreuzzug zerstritten hatte. Leopold gab seinen Gefangenen weiter an den HRR-Kaiser Heinrich VI., die Sache war ihm wohl alleine zu heiß, zumal der Papst not amused war. Heinrich sperrte Richard unter anderem auf Burg Trifels ein. Gegen ein hohes Lösegeld kam er nach gut einem Jahr wieder frei und tat sogleich das, was er am besten konnte: Krieg führen, und zwar nun gegen die französische Krone. Er starb nach einer Kampfverletzung im Jahr 1199 und hinterließ keine Erben – zumindest keine legitimen. Sein Nachfolger wurde sein Bruder Johann Ohneland, gegen den Richard sein Leben lang intrigiert und um die Macht gestritten hatte.

Dass Richard als Volksheld gefeiert wird, ist späteren Einflüssen zu verdanken, die ihn zum edlen Ritter stilisierten. Zwar war er ein erfolgreicher Kriegsherr, doch Zeitgenossen beschreiben ihn als gewalttätig und rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um das Wohlergehen seiner Untertanen, vernachlässigte die Verwaltung und scherte sich nicht um Recht und Gesetz. Frauen und Töchter der Unterworfenen machte er zu seinen Konkubinen und gab sie an seine Soldaten weiter. Alles in allem ein egozenterischer, brutaler Mensch.

Prächtig: Die Westfassade

Durch die engen malerischen Gassen geht es weiter zum erzbischöflichen Palais, wo das Historial Jeanne d’Arc untergebracht ist. Hier lässt uns eine großartige Multimedia-Show an ihrem Rehabilitationsprozess teilhaben – sehr beeindruckend und toll inszeniert. Das können die Franzosen echt gut!

Nur ein paar Impressionen hier, das muss man live erlebt haben.

Auch die Lebensgeschichte des Mädchens aus Domremy wird erzählt
Belagerung von Orleans
Der Prozess
Der Scheiterhaufen – Gänsehautfeeling

Am Ende dieses Prozesses wird Jeanne d’Arc 1456 in der Kathedrale Notre Dame de Paris rehabilitiert und zur Märtyrerin erhoben. Nicht, dass sie was davon gehabt hätte, aber „ihrem“ König Karl VII. brachte das schon einiges an Ansehen im Volk.

Zum Schluss geht es darum, wie man sich im Laufe der Jahrhunderte der Person Jeanne d’Arcs bemächtigt hat, um sie vor jedweden politischen Karren zu spannen: Für die Bauern war sie eine von Ihnen, für die Katholiken in den Religionskriegen eine Verfechterin des Glaubens, für die Royalisten eine Königstreue, für die Revolutionäre eine Freiheitskämpferin, für Napoléon eine Kriegsherrin, für die Le Pens dieser Welt die Verkörperung von Nationalstolz und Vaterlandsliebe.

Und nicht zuletzt muss sie als Kinoheldin herhalten, als Comicfigur, Dekoobjekt und sogar als Tischgeschirr. Die arme Johanna würde sich im Grab umdrehen, wenn sie denn eines hätte – man hat ihre Asche in die Seine gestreut, um keinen Wallfahrtsort zu schaffen.

Blick aus dem obersten Stock auf die Abteikirche St. Ouen – man gönnt sich eine zweite gotische Kathedrale

Das hätte eigentlich für einen Tag locker gereicht, aber wir haben noch nicht fertig! Erst aber mal eine Pause vor dem Portal der Kirche St. Maclou (Gotik die dritte!).

Im Souvenirshop 💀🤦‍♀️

Dann wird es morbide: Im Viertel Saint Maclou existiert noch ein alter Pestfriedhof der auf die große Epidemie von 1348 zurückgeht. Nach einer weiteren Epidemie im 16. Jahrhundert brauchte man mehr Platz für die zahllosen Toten und hat Ossuarien, Beinhäuser um den Friedhof gebaut. 1705 wurden die auf den Dachböden gelagerten Gebeine entfernt die Dachböden zu vollen Etagen ausgebaut. In den Gebäuden wurde eine Schule eingerichtet, es diente zu Wohnzwecken und heute sind dort Künstlerwerkstätten und Galerien untergebracht und ein Café. Es ist ein lauschiger Innenhof mit großen Bäumen, wären da nicht …

… die makabren „Deko“-Elemente: Zahllose Totenköpfe, Knochen, Särge und Spitzhacken. Publikumsliebling ist eine mumifizierte Katze (Animal of the Day???) in einer in die Wand eingelassenen Vitrine. Die ist zwar vermutlich ein Scherz von Kunststudenten, kommt aber gut an.

Man kann sich an diesen Gassen gar nicht satt sehen, finde ich.

Einen kurzen Abstecher machen wir noch in die prächtige Abteikirche St. Ouen. Mir gefällt sie fast besser als die Kathedrale, die Fassade ist frisch renoviert, strahlt in hellem Beige und Turmspitzen hat sie auch! Der Innenraum ist quasi leer und strahlt sehr viel Würde aus.

Samstags werden hier Orgelkonzerte gegeben, aber nicht auf der großen Cavaillé-Coll Orgel, sondern für sie. Gespielt wird auf einer „dekonstruierten“ Orgel wie ich sie noch nie gesehen habe.

Dann ist aber zappe! Im L’Espelette, einem Tipp aus dem Lonely Plant, genehmigen wir uns ein Weinchen. Essen gibt’s hier erst später, der Mâitre de cuisine schält in aller Ruhe erst mal einen Sack Kartoffeln 😂.

Auf dem Heimweg kommen wir an einem Trödelladen der besonderen Art vorbei: Hier gibt es ausschließlich Katzen – und ab und an mal eine Maus. Der Franzhose liebt Trödel – alle Ritt lang gibt es Brocanterien (Trödel, Antiquitäten) und Marchés de Puces (Flohmarkt).

Finde die Maus!

Wir gehen zum Abschluss am „Vieux“ noch schön essen und verabschieden uns damit von Rouen. Eine besonders schöne und sehr sympathische Stadt. Können wir nur wärmstens empfehlen! Und für einen zweiten Besuch hätte ich auch schon Ideen 💡.

Abendstimmung an der Seine …
… und auf unserem Stellplatz

Heute sind drei Wochen unserer Reise in die Normandie rum.

Wie zu erkennen ist, sind wir bereits in Richtung Heimat unterwegs. Insgesamt haben wir 1.348 km auf den Rädern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert