Weltkultur vom Reißbrett: Le Havre

Freitag, 6. Juni 2025: Beton. Es kommt drauf an, was man draus macht!

Stadtgründer Francois I

Die nach Marseille zweitwichtigste Hafenstadt Frankreichs ist sozusagen Opfer ihrer eigenen Bedeutung geworden: 1517 als Kriegshafen gebaut, gewann „der Hafen“ immer mehr an Größe und hatte natürlich auch im WWII eine enorme strategische Bedeutung. Die Deutschen bauten Le Havre zur Festung aus und hatten nach der Landung der Alliierten 1944 den Befehl, die Stadt unter allen Umständen zu halten.

Anfang September 1944 legte die Royal Air Force, unterstützt von Schiffsartillerie, mit 132 Angriffen einen Bombenteppich über die Stadt und zerstörte 82% der Bausubstanz. 12.500 Gebäude wurden dem Erdboden gleich gemacht, 2.000 Menschen getötet, 31.000 obdachlos. Die Bombardements hatten nicht primär der damals etwa 12.000 Mann starken deutschen Garnison an der Küste gegolten, sondern es erfolgte ein Flächenbombardement der gesamten Stadt. (Quelle: Wikipedia).

Was tun? Anders als vielerorts entschied sich die französische Regierung gegen einen Wiederaufbau. Es sollte nicht das Alte, sondern etwas Neues, Radikales entstehen: eine moderne Modellstadt. Der renommierte Architekt Auguste Perret wurde damit beauftragt, und realisierte mit seinem Team von 60 Architekten das neue Le Havre.

Die Regeln waren strikt: Das Straßenraster und jedes Gebäude ist rechtwinklig angelegt, überwiegend gleiche Geschosshöhe, der Abstand zwischen maßgeblichen Bauteilen wie z.B. Fenster voneinander ist genormt („Achsmaß“ 6,24 Meter, alle Maße müssen durch 2 und drei teilbar sein), alle Fenster sind raumhoch, das Erdgeschoss immer öffentlich und als Material wird Beton verwendet.

Aber nicht irgendein Beton! Perret ließ den Schutt der kriegszerstörten Häuser zermahlen, streng getrennt nach Farbe und Struktur. Dann wurden Glassplitter, Kies oder Sand beigemischt und Beton dann wie Naturstein behandelt, poliert oder aufgeraut. Perret beschrieb seinen „… Beton … schöner als Stein, dessen Schönheit die edelsten Baumaterialien übertrifft.“

Auch die Wohnungen sind weitgehend genormt. Mit optimaler Sonneneinstrahlung, integrierter Küche und Badezimmer und kollektiver Umluftheizung geben sie jedem “das Recht auf Ruhe, Sonne, Luft und Raum”.

Durch unterschiedliche Farben und Ornamentik (Kolonnaden, Reliefs) wirken die Gebäude harmonisch und gleichmäßig, doch überhaupt nicht eintönig.

Nach Perrets Tod im Jahr 1954 wurden seine Pläne weiter ausgeführt, auch wenn manche Einwohner ihrer neuen Stadt zunächst nichts oder nur wenig abgewinnen konnten. Das hat sich geändert, spätestens seit Le Havre als einziges städtebauliches Ensemble Europas am 15. Juli 2005 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde.

Das war nun ein sehr langes Vorwort, jetzt lassen wir mal die Bilder sprechen. Und da komme ich gleich auf ein neues Thema, nämlich diese fulminante Brücke:

Pont de Normandie

Es ist die/der Pont du Normandie, eine schön geschwungene Schrägseilbrücke, die mit 856 Metern die größte Spannweite in Europa besitzt. Sie überspannt die Seine-Mündung zwischen Honfleur und Le Havre und wurde nach 7 Jahren Bauzeit 1995 fertiggestellt. Ein sehr beeindruckendes Bauwerk. Wenn grad keine Baustelle ist (wie zurzeit) gibt es sogar eine separate Fahrradspur und einen Fußgängerweg. Für letzteren muss man aber Zeit mitbringen, denn mit den beiden Vorlandbrücken kommt man auf über 2 km Länge.

Die beiden „Spiralbohrer“ sind nicht die Aufgänge zur Brücke, sondern reine Deko. Kunscht lässt sich der Franzose deutlich mehr kosten als der Deutsche, das ist zumindest mein Eindruck.

Wir finden in Le Havre in der Innenstadt auf Anhieb einen ausreichend dimensionierten Parkplatz für den HoGo und das für ’nen Appel und ein Ei (ich glaub 3,80 für 6 Stunden, 2 Stunden Mittag sind für umme, damit der Franzose essen gehen kann).

Wir stehen am Bassin du commerce, wo ab1820 die Handelsschiffe anlegten aber auch Freizeit und Kultur nicht zu kurz kamen. Eine elegante Fußgängerbrücke überspannt das 99 Meter breite Hafenbecken.

Von dieser Brücke aus hat man einen fantastischen Blick auf eines der Wahrzeichen der Stadt: Den Vulkan. Er ist das Werk des brasilianischen Stararchitekten Oscar Niemeyer. Weil wir da später nochmal hingehen, belassen wir es erst mal dabei.

Wir vertrauen uns unserem Reiseführer Geo Käsching an 😉und spazieren zunächst ins Stadtviertel Saint-François, wo noch ein paar Häuser von früher übrig geblieben sind. Wie Fremdkörper wirken sie zwischen den Neubauten. Dies war das Haus eines Reeders, 25 (!) Zimmer um einen Lichthof.

Zu meinem Entzücken stoßen wir hier auch auf den Fischmarkt und einige Stände sind sogar noch offen. Stadtbesichtigung mit frischem Fisch im Rucksack kommt schlecht, also ist Kaufen keine Option. Aber gucken!

Über die letzten Reste machen sich dann die Möwen her. Hitchcock lässt grüßen.

Auch die Kirche Saint-Francoise und das benachbarte Hôtel Dubocage de Bleville haben die Zeit überdauert. Heute ist es ein Museum, diente einige Zeit als Wohnstatt für Seefahrer-Witwen.

Im Garten gibt es Kunst zum Draufsetzen: Stühle mit … tja … mit was? In die Sitzfläche sind Sätze oder Worte eingraviert. Sinnig, gar tiefsinnig oder doch unsinnig? Jedenfalls ist jedem Stuhl/Spruch ein Leitbuchstabe zugeordnet

K: Der Koala langweilt sich mit seinem Eukalyptus Kategorie Kappes🤡
Links das A.
Rechts das Q: Die Nacht wird auf die Erde fallen und das Jahrhundert wird in Scherben fliegen
Das I hingegen erscheint mir tiefsinnig

Wir verlassen das alte Stadtviertel und wenden uns dem neuen zu. Als erstes statten wir dem Vulkan einen Besuch ab. Von 1972 bis 1978 wurde er nach Plänen von Oscar Niemeyer gebaut. Er beherbergt die Stadtbücherei und viele Räume für kulturelle Veranstaltungen.

Biste drin, kannste rausgucken. Heute war leider nichts los.
Der Innenhof ist eine Oase der Ruhe!
Das Raumschiff Orion nach dem Rücksturz zur Erde

Danach leihen wir uns zwei eScooter, Helme haben wir dabei und ab geht die wilde Fahrt 🛴 durch den Stadtkern. Auch hier lassen wir uns von einem Geocache führen, der uns zu den wichtigsten Punkten bringt und zudem die Grundzüge der Architektur Perrets sehr gut erläutert.

Rue de Paris: Die „Champs Elysee von Le Havre. Blickachse zum Hafen und Kolonnaden bis hinten durch

Ein wahrer Hingucker und auch Wahrzeichen ist die Kirche Saint Joseph,  Gedenkstätte für die Zerstörung der Stadt und für die Toten bei der Befreiung Frankreichs 1944. Bei Nacht wird sie zum „Leuchtturm“ – das muss ein überwältigender Anblick sein.

Der Innenraum ist atemberaubend: Keinerlei Schmuck, keinerlei Schnickschnack, nur Raum und Licht. Und leise Musik. Beim Blick in den bis ganz oben offenen Turm glaubt man abzuheben. Ich hatte Gänsehaut!

Durch tausende Glasbausteine fällt Licht in den 107 Meter hohen Turm
Auch Reliefs findet man häufig als dekorative Elemente

Die Wohnbebauung sollte Platz für 60.000 Menschen bieten. Sie folgt, wie schon beschrieben, strengen Normen. Die Wohnblöcke sind ein wenig wie Bauklötze, dennoch wirkt das Ganze nicht wie Plattenbau. Immer ist etwas individuell und anders: Die Farbe, die Geländer, die Fassadengliederung, Fensteranordnung und so weiter.

Vor diesem Haus spricht uns eine Passantin an und besteht darauf Fotos von uns zu machen, erst vor dem Gebäude, dann lotst sie uns in den gegenüberliegenden Park. Sie will uns damit ein Andenken an ihre Stadt geben, auf die sich sichtbar stolz ist. Wir können nicht wiederstehen 😍.

Man kann sehr gut Fahrrad – oder eScooter – fahren, selbst daran hat Perret 1945 gedacht!

Über den breiten Rad-/Fußweg entlang der Avenue Foch kommen wir schließlich zum Rathaus, auch das ein sehr durchdachtes Gebäude, schlicht und herrschaftlich zugleich. Allein der 72 m hohe Turm zeigt – wörtlich – das Herausragende des Gebäudes.

In der Gegenrichtung öffnet sich die lange Blickachse zum Meer.

Am End – wir haben gerade die Scooter abgestellt – geht ein heftiger Regenschauer nieder, vor dem wir uns grad noch so unter eine Markise retten können. Glück gehabt!

Ein wie ich finde „netter“ Sidefact zum Schluss: Von 1965 bis 1995 war die Stadtverwaltung von Le Havre kommunistisch geführt, was der Stadt den Spitznamen „Stalingrad-sur-Mer“ einbrachte. Scheint ihr nicht geschadet zu haben! Und überhaupt finde ich, das passt ganz gut. Ist ja so eine Art sozialistische Architektur, die keinen Unterschied macht zwischen arm und reich.

Gegen 16 Uhr verlassen wir Le Havre, das bei uns einen sehr positiven Eindruck hinterlassen hat. Wir fahren Richtung Nordosten parallel zur Küste.

Leider deppert Volker unterwegs unseren rechten Außenspiegel, es lässt sich aber zum Glück halbwegs wieder richten. Das Dreckding kostet 1.000 Euro, sehr ärgerlich, denn mit dem kommen wir nicht über den TÜV. Shit happens!

Am Abend war der Hof voll besetzt
Animal of the day:
Soleil ist ganz lieb aber auch wachsam

Unser heutiger Stellplatz ist ein Unikum: Auf dem großen Hof eines kleinen Einfamilienhauses, hinter einem Rolltor wie in Abrahams Schoß und bewacht von Hündin Soleil. WoMo mit zwei Personen inklusive Strom für 13 Euro 👍️. Sehr nette Eigentümer auch (er Rumäne)!

Volker macht noch einen Spaziergang zu den nahe gelegenen Klippen (1 km) und bringt schöne Fotos mit. Auf dem linken Bild (draufklicken) sind am sind am Horizont ganz viele Schiffe zu erkennen, die durch den Ärmelkanal schippern. Laut Vesselfinder sind auch eine ganze Reihe großer Öltanker dabei. Wenn da man nicht der eine oder andere Tanker aus der Schattenflotte Russlands dabei ist … 🤨

Dieses gefällt mir am besten!
Unsere heutige Tour von La Grande Pommeraie (C) über den Tagesbesuch von Le Havre (D) nach Octeville-sur-Mer (E), 51 km

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