Hans, Carl und ein klein wenig Anders

Dienstag/Mittwoch, 8./9. August 2023

Das opulente Tief Hans

Der Dienstag ist ein Tag ohne besondere Vorkommnisse. Tief Hans beschert uns Regen und viel stürmischen Wind, der die Birken und Tannen am Rand der E4 wie Peitschen hin und her schlägt und unangenehm am HoGo rüttelt!

Wir stoppen nur einmal und erweisen in Söderhamn Neptun unsere Reverenz. Nicht dem Meergott (obwohl das auch passen täte), sondern dem äußersten Planeten unseres Sonnensystems. Das ist er, seit man Pluto 2006 aus dem Klub geworfen hat, bis dahin war er der vorletzte.

Sieht ein wenig aus wie eine überdimensionierte Nachttischlampe, ist aber ein maßstabsgetreues (1:20 Millionen) Modell des Neptun
Das Projekt umfasst über 60 Himmelskörper des Sonnensystems, Planeten, Monde, Asteroiden, Kometen und wird immer weiter ausgebaut

An der Uni Stockholm enstand in den 1990er Jahren die Idee, das Sonnensystem maßstabsgerecht nachzubauen, und zwar richtig groß, über ganz Schweden verteilt! Zentrum ist die riesige kugelförmige Avicci-Arena (vormals Ericsson Globe) in Stockholm, das größte sphärische Gebäude der Welt, das die Sonne repräsentiert. Es legt auch den Maßstab von 1 zu 20 Millionen fest. Die inneren Planeten sind alle im Umkreis von 12 Kilometern in und um Stockholm, Jupiter in der Eingangshalle des Clarion Airport-Hotel in Arlanda. Das äußerste Objekt steht in Kiruna, ein Modell der Heliosphäre, der Reichweite des Sonnenwindes, die hier als „termination shock“ endet.

Es hat uns ja ein wenig gereizt, die Planeten alle zu besuchen, aber das wäre doch schwierig und sehr zeitaufwendig, also lassen wir das.

Für den Abend und die Nacht verlassen wir die laute E4 und stellen uns hinter Hävla auf einen einsamen Waldparkplatz in Strandnähe.

Volker macht ein paar schöne Wellenbilder der Ostsee, die sich über den stürmischen Hans ordentlich uffreescht:

Hans beschert uns uns mit 312 km die bislang längste Fahrstrecke unserer Reise. Heute ging es von Hornö Brygga (G) über Söderhamn mit dem Neptun (H) an den Strand von Skatskär (I)

Am Mittwoch Morgen scheint mal ganz kurz die Sonne durch die Fenster, um sich alsbald für den Rest des Tages zu verabschieden. Na, wenigstens haben wir hier keine Unwetter, wie sie aus anderen Regionen Südskandinaviens, vor allem um Oslo, gemeldet werden: Überschwemmungen, Erdrutsche, unterspülte Straßen und Bahngleise, ja sogar der Dammbruch eines Wasserwerks. Hans tobt sich aus und das möglicherweise noch ein paar Tage lang! Da sollten wir uns bei Regen und Wind nicht beschweren.

Von Skutskär nach Uppsala

Wir fahren ca. 100 Kilometer weiter nach Uppsala, genauer, nach Gamla Uppsala einer frühmittelalterlichen Siedlung und Kultstätte, ein wichtiger Handelsplatz, bis die Landhebung die Wasserwege trocken gelegt hat. Auf dem großen Parkplatz des Museums kann man für umme stehen und das tun viele Wohnmobilisten, darunter hier auch eine Menge Deutsche, die wir sonst in Nordschweden kaum gesehen haben.

Wir holen die Fahrräder vom Rack und machen uns auf in die Stadt – über einen klasse ausgebauten Fahrradweg, der fast an Holland erinnert!

Kaum sind wir in der Innenstadt angekommen, da stolpern wir 1. über unsere Stellplatznachbarn und 2. über Carl von Linnés Domizil nebst botanischem Garten. Das lass ich mir natürlich nicht entgehen 😍! Für je 100 SEK Eintritt kriegen wir einen gelben Bapper als Eintittskarte ans Revers. Darauf steht Linnés Motto: Omnia mirari etiam tritissima – Überall sind Wunder, selbst in den alltäglichen Dingen. Das spricht mir aus der Seele!

Blick zur Orangerie

Der Garten ist der älteste botanische Garten Schwedens, angelegt 1655 von dem Botaniker Olof Rudbeck senior. Er diente der medizinischen Ausbildung der Studenten der Universität. Der obligatorische Stadtbrand, hier im Jahr 1702, zerstörte auch den Garten nachhaltig, auf der verbrannten Erde mochte nichts mehr gedeihen. 1741 zog Carl von Linné nach Uppsala, lehrte als Medizinprofessor an der Universität und erweckte den Botanischen Garten zu neuem Leben. Er blühte im wahrsten Sinn des Wortes wieder auf.

Einige Jahre nach Carl von Linnés Tod (1778) wurde ein neuer, größerer botanischer Garten angelegt und der alte wurde bedeutungslos.

1917 kaufte die Schwedische Linné-Gesellschaft das Gelände und legte den mittlerweile zu einem Park umgebauten Garten nach den Aufzeichnungen Linnés neu an. Er ist heute ein geschütztes Baudenkmal und gehört wieder der Universität Uppsala.

Aber wer war nun dieser Carl von Linné und was hat er gemacht?

Am Revers das Moosglöckchen, Linnaea borealis L.
Von Alexander Roslin – Cropped from this image. See also Nationalmuseum., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=80961589

Nun, der godfather of taxonomy, wie ich ihn gern nenne 😇, war ein Pfarrerssohn aus Südschweden, geboren 1707, der als ältester Nachkömmling in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Dieser war daher zunächst not amused, dass sein Sohn in den kirchlichen Fächern wie Hebräisch und Theologie auf dem Gymnasium wenig reüssierte, sich hingegen in Mathematik, Naturwissenschaften und auch Latein hervortat. Auf Anraten der Lehrer ergab sich Papa Linné jedoch in sein Schicksal und ließ den Jungen Medizin studieren, erst in Lund, später an der Universität Uppsala.

Wegen seiner mageren finanziellen Verhältnisse zog sich das Studium in die Länge, wohl aber auch wegen des sehr dürftigen Studienangebotes an der Uni Uppsala. So forschte Linné auf eigene Faust in Mineralogie, Zoologie und Botanik vor sich hin, fand Geldgeber für eine Expedition nach Lappland und reiste in Schweden umher. In der Bergwerkstadt Falun verliebte er sich in die Tochter des Stadtarztes, Sara Elisabeth Moraea, deren gestrenger Herr Papa vor der Heirat jedoch den Erwerb eines Doktortitels und finanzielle Unabhängigkeit forderte. Das war um Neujahr 1734/35. Linné zögerte nicht lange, reiste nach Holland, immatrikulierte sich am 16. Juni 1735 an der Uni Harderwijk, bestand 2 Tage später seine Aufnahmeprüfung und übergab zu dieser (!) seine Dissertation, die er schon in Schweden geschrieben hatte. Am 23. Juni 1735 bestand er sein Examen. Doktortitel: Check ✅. Das ganze übrigens in Medizin – Biologie war als Studienfach noch nicht „erfunden“.

Von Georg Dionysius Ehret – World Picdatabase Gallery 483049, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2480980

In den folgenden vier Jahren lehrte, arbeitete und forschte er in Holland, England und Frankreich, wo er als Wissenschaftler hohes Ansehen erwarb. Zu der Zeit hatte er bereits seine Taxonomie der Pflanzen entwickelt: Anders als bisher ordnete er sie nicht nach generativen Merkmalen wie Blattformen oder Blütenfarben, sondern nach ihren Fortpflanzungsorganen. Das Sexualsystem der Pflanzen veröffentlichte er Ende 1735 in seiner Systema naturae.

Gott erschuf, Linné klassifizierte
In der Systema naturae klassifiziert Linné Tiere, Pflanzen und Mineralien als die drei Reiche der Natur und unterteilt diese in Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. Auch wenn diese Einteilung heute nicht mehr ganz zeitgemäß ist, so bildet sie das Fundament der botanischen und zoologischen Taxonomie. Zugleich gab er mit der binären Nomenklatur den Lebewesen neue wissenschaftliche Namen: Jede Pflanze und jedes Tier hat sozusagen einen Vor- und einen Nachnamen, aus Gattung und Art: Der Artname gibt oft eine Eigenschaft an (vulgaris-gewöhnlich, rubrum-rot, minor-klein), der Gattungsname ist nicht selten einem Menschen gewidmet (Linnaea, Rudbeckia). Seither kann man jede Pflanze und jedes Tier eindeutig benennen, ohne ihre landläufigen Bezeichnungen lernen zu müssen! Funfact: Schönen Pflanzen gab Linné die Namen seiner Freunde, stachlige oder stinkende Gewächse benannte er nach seinen Kritikern!

Blick zur Orangerie

Linné kehrte 1738 nach Schweden zurück, ließ sich als Arzt in Stockholm nieder und durfte im Jahr darauf endlich seine Angebete ehelichen, mit der er sieben Kinder hatte. 1741 wurde er Professor für Botanik an der Universität Uppsala und übernahm das Haus seines Vorgängers Olof Rudbeck im alten Botanischen Garten der Universität.

Das Wohnhaus. Hier lebte Linné bis zu seinem Tod 1778

Womit wir wieder im Garten angekommen wären!

Volker begibt sich hier sogleich auf die Jagd nach einigen besonders schönen „Bewohnern“:

Von den etwa 1.300 Arten die hier auf so kleinem Raum wachsen, kenne ich viele nicht oder kann sie nur einer Familie, bestenfalls einer Gattung zuordnen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn es ist ein wissenschaftlicher Garten und ein Versuchsgarten, wie zu Rudbecks und Linnés Zeiten, und er beherbergt viele exotische und seltene Pflanzen.

Linnaea borealis L.

Wir haben das Glück, an einer sehr fundierten Führung teilnehmen zu können. Anna, eine Mitarbeiterin der Uni Uppsala, erzählt mit ebenso viel Sachverstand wie Enthusiasmus über Linnés Leben, seine Forschung und über seinen botanischen Lehrgarten.

Linné war der Überzeugung, man dürfe sich nicht abhängig machen vom Handel aus fremden Ländern, sondern müsse zusehen, dass man möglichst viel aus der eigenen Natur schöpft, Nahrung, Heilmittel, Genußmittel wie Tabak oder Tee, aber auch Dinge wie Seide, Perlen oder Porzellan, – ein Gedanke der ja gerade wieder modern wird. So versuchte er, exotische Pflanzen in seinem Garten zu züchten, was mal mehr, mal weniger gelang. Er war der erste, der in Schweden Bananen ernten konnte – die Bananenpflanze hielt er für das biblische Gewächs, mit dem Adam und Eva ihre Blöße bedeckten und gab ihr den Namen Musa paradisiaca – Paradiesfeige.

Hier erläutert Anna den chinesischen Rhabarber, ein höchst potentes Abführmittel. Die Säuberung des Körpers durch Aderlässe, Schröpfen oder eben auch Abführen war auch im 18. Jahrhundert noch eine Art Allheilmittel.

Linné, so erzählt Anna, war entgegen dem Zeitgeist seiner Epoche, Anhänger einer maßvollen Lebensweise. Er empfahl, wenig zu essen, wenig zu saufen und hielt auch das Rauchen für ungesund.

Nicotiana tabacum.

Im Garten wuchsen auf engem Raum bis zu 3.000 Pflanzenarten, neben Nahrungspflanzen vor allem Heil- und Giftpflanzen – wobei das eine Frage der Dosis ist, wie auch Linné wohl wusste. Daneben hat er aber auch für jede seiner Taxonomieklassen, 24 an der Zahl, Vertreter in seinen Garten gepflanzt. Dieses System beruhte, wie oben schon erwähnt, auf den Geschlechtsorganen der Blütenpflanzen und Gräser, den Staubblättern ⚣ und Stempeln ⚢. Wie viele gibt es, sind sie frei oder verwachsen, sind die Blüten zwittrig oder nicht. Er beschrieb die Fortpflanzung sehr bildhaft: „Neun Männer im selben Brautgemach mit einer Frau“ (eine Blüte mit einem Stempel und neun Staubblättern), was viele Gegner auf den Plan rief: man fand Linnés Vorstellungen pornografisch. Selbst der an sich wenig prüde Goethe zeigte sich 100 Jahre später in seinem sittlichen Gefühl beleidigt.

Nach der Führung können wir noch das Wohnhaus der Familie von Linné besuchen, das samt Mobiliär und Geschirr fast originalgetreu erhalten ist. Man hat die Sachen nur in Vitrinen geräumt und ausgestellt. Unten hat die Familie gewohnt, oben hat Linné gelehrt und geforscht.

Danach geht es auf Sightseeing-Tour durch Uppsala. Station 1:
Der Dom.

Kateryna Baiduzha, Eigenes Werk, CCBY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=123579731

Hier wurden viele schwedische Könige gekrönt und vermutlich noch mehr beerdigt – der ganze Boden besteht aus Grabplatten, man geht wirklich über Leichen. Sogar über die von Carl von Linné, auch er ruht unter dem Fußboden des Doms.

Die prominentesten Toten sind der Heilige Erik in seinem goldenen Schrein und König Gustav I. Wasa nebst 2 Gemahlinnen in einem stattlichen Grabmal ganz vorne im Chor .

Uppsala hat auch ein stattliches Schloss, inmitten alter Bastionen auf einem Hügel gelegen.

Unterhalb des Schlosses hat man einen schönen Bick über die zentrale Parkanlage des neuen Botanischen Gartens der Universität.

Die altehrwürdige Universität von Uppsala (seit 1477) residiert heute in vielen alten und neuen Gebäuden und hat über 40.000 Studierende! Unter den Absolventen sind so klangvolle Namen wie Linné, Hammarskjöld (UN-Generalsekretär), Ångström, Rudbeck (Entdecker des Lymphsystems), Carl XVI Gustaf (König) und Anders Celsius.

Noch etwas (vermutlich) unnützes Wissen zum Schluss:
Anders Celsius starb 1744 im Alter von 42 Jahren an Tuberkulose. Er liegt in dem Kirchlein in Gamla Uppsala begraben – unter dem roten Teppich im Mittelgang der Kirche.
Die Sache mit dem Thermometer hatte sich Celsius übrigens wie seinen Vornamen gedacht: Anders! 0°C war der Siedepunkt des Wassers, 100°C der Gefrierpunkt. Dass es heute umgekehrt ist, haben wir Linné zu verdanken, er vertauschte nach Celsius Tod die Fixpunkte der Skala.

Mittwoch, Zeit für den üblichen Überblick. Wir haben heute unsere elfte Woche seit der Fährüberfahrt von Skagen nach Kristiansand unterwegs.

Wir haben bis heute 7.250 Straßenkilometer durch Norwegen und zurück über Finnland und Schweden bis nach Uppsala zurückgelegt.

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