Eine Stadt platzt aus den Nähten

Sonntag, der 12. Februar 2022, #7 Neustadtplätze

Wir verlängern unser heutiges Programm um einen Abstecher zu den Neustadtplätzen. Die Neustadt entsteht 1866 auf dem Reißbrett, und zwar auf dem des – späteren – Stadtbaumeisters Eduard Kreyßig. Die Erschließung neuer Siedlungsflächen tut bitter Not, Mainz ist in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die am dichtesten besiedelte Stadt Deutschlands, dreimal so viele Einwohner pro Fläche wie Frankfurt oder Berlin, mit allen negativen sozialen und gesundheitlichen Folgen, die dies mit sich bringt. Grund ist der militärische Charakter der Stadt, Wallanlagen, Bastionen, Schanzen und Festungsgebäude schnüren die Stadt ein, dahinter liegen erst die Glacis – freie Flächen als Schussfeld, wo jegliche Bebauung verboten ist, dahinter die Rayons, wo sie stark eingeschränkt ist.

Durch das Missverhältnis zwischen ziviler Stadtfläche (1,2 km²) und militärisch genutzter bzw. gesperrter Fläche (7 km²) bleibt Mainz auch in der wirtschaftlichen Entwicklung zurück – und das zu einer Zeit , als andernorts überall Fabriken aus dem Boden schießen. Erst nach langen und zähen Verhandlungen stimmen die Militärs des preußischen Kriegsministeriums 1872 der Schleifung der Anlagen zu. Damit ist der Weg frei für die Stadterweiterung, die von 1880 bis ca. 1920 unter Stadtbaumeister Eduard Kreyßig bzw. später nach seinen Plänen, erfolgte.

Das mit Gärten, Baracken, kleinen Handwerksbetrieben und wenigen kleinen Häusern locker besiedelte Rayon „Gartenfeld“ und der nördlich anschließende, brach liegende „Bruch“ wird für die Stadterweiterung auserkoren. Das Gelände ist, vor allem im Norden, Überschwemmungsgebiet und muss aufgeschüttet werden, was man an einigen Stellen, z.B. in der Wallaustraße 77 oder im Hunikelweg heute noch sieht. Gigantische Erdmassen werden herangekarrt, Zug um Zug schüttet man erst die Straßen auf, baut dann die Häuser und füllt drumherum die Erde auf. So haben viele Häuser in der Neustadt besonders tiefe Kellergeschosse.

Im Wikipedia-Artikel über Eduard Kreyßig und über die Mainzer Neustadt findet man zahlreiche Bilder und Fakten über Kreyßigs Arbeit in Mainz. Auch wenn vieles im Krieg zerstört wurde, Kreyßig hat wie kein anderer die Stadt geprägt mit Verlegung der Bahntrasse weg vom Rheinufer, dem Bau der Stadthalle, Schulen, Polizeistationen, Volksbädern, zahllosen privaten Wohn- und Geschäftshäusern. Zudem eine Synagoge und – als eines seiner Hauptwerke – die Mainzer Christuskirche sowie natürlich mit der gesamten Neustadt. 

1898

Wir beginnen in der Hindenburgstraße, gehen durch die Adam Karillon-Straße (früher Schulstraße) vorbei am 117er Ehrenhof, den ein schäbiger Baucontainer „ziert“.

Ein Highlight ist sicherlich die Neue Synagoge, 2008-2010 am Platz der von den Nazis geschändeten und zerstörten Hauptsynagoge, Hindenburgstraße Ecke Josefsstraße. Sicherlich eines der spannendsten Gebäude in Mainz.

Die Fliegerangriffe im Februar 1945 legen Mainz in Schutt und Asche, auch die Neustadt ist ein Trümmerfeld, die Christuskirche ist nur noch eine Ruine. Man hat heute gut reden, wenn man über die hässlichen Nachkriegsbauten herzieht, ohne zu bedenken, wie unendlich glücklich die Menschen gewesen sein mussten, endlich wieder ein ordentliches Dach über dem Kopf zu haben, Heizung, Wasser, sanitäre Anlagen. Es gab weder Zeit noch Geld für architektonische Mätzchen, schnell musste es gehen und preiswert musste es sein.

Wir machen noch einen Schlenker zum Gartenfeldplatz und am Goetheplatz endet der Hörspaziergang. Über die Boppstraße, die gerade umgestaltet wird, geht es dann nach Hause.

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