Scharfe Sache

Landvergnügen mal anders

Am Sonntag Vormittag verabschieden wir uns von den Niederlanden und schwuppdiwupp, „wohnen“ wir mit dem HoGo schon in Solingen 😀.

Warum Solingen? Nun, es liegt etwa auf halber Strecke und es bietet am LVR Industriemuseum (LVR = Landschaftsverband Rheinland) einen kostenlosen Landvergnügen-Stellplatz. Es gibt 7 dieser Industriemuseen des LVR und hier in Solingen kann man die Gesenkschmiede Hendrichs besichtigen.

Übrigens hätten wir schon in Hattingen das LVR-Industriemuseum Henrichshütte (ohne d) besichtigen können, eine ehemalige Zeche. Tja 🤷‍♂️.

Solingen ist ja bekannt für seine Klingen und Messer, aber auch Scheren wurden gefertigt. Darum geht es hier, wie man unmissverständlich erkennen kann.

Eine richtig große Werkshalle!

Nun hätte ich mir die Scherenproduktion irgendwie „niedlich“ vorgestellt, zumindest solange es um normale Haushaltsscheren geht. Also eine kleine Werkbank, an der die Scheren halt irgendwie Stück für Stück aus Metall zurechtgeklöppelt werden. Aber schon der Maschinenpark im Außengelände belehrt mich eines Besseren: Das sind ganz schöne Trümmer an Maschinen, die da rumstehen:

Und drinnen erwartet uns als erstes eine riesige Dampfmaschine mit ebenso gigantischen Transmissionsrädern, das „Getriebe“ der Scherenfabrik:

Bis zu 2 Tonnen Koks wurden täglich hier in den Kessel geschippt.
Im Maschinenhaus setzt ein dampfbetriebener Kolben das große Hauptrad in Bewegung, das dann die einzelnen Transmissionsräder antreibt. Durch jede Halle laufen unter der Decke die Riemen.

Man ahnt schon, dass die Scheren hier nicht in liebevoller Handarbeit einzeln zurechtgeklöppelt werden! Und so ist es. Sie werden mit Gesenken geformt, die in der Werkzeugmacherei für jeden Scherentyp angefertigt wurden:

Transmissionsriemen treiben den Fallhammer und das Gebläse des Glühofens an

Diese Gesenke werden dann in Riemenfallhämmer eingespannt, eins oben, eins unten, wobei man auf exakte Passgenauigkeit achten muss. Die Fallhämmer werden über die Riemen indirekt durch Dampf oder Diesel angetrieben.

Laut war es in den Fertigungshallen, durch die Treibriemen, -räder und die schweren Fallhämmer und heiß zudem, denn die Rohlinge müssen rotglühend geschmiedet werden. Das bekommen wir tags drauf exklusiv vom Schmied (Namen hab ich leider vergessen) vorgeführt:

So wird die Schere „geschlagen“. Beeindruckend!

BIs zu 2500 Teile schmiedete ein Mann pro Tag!

Abgekühlt kommt der Rohling dann in eine Maschine, die die „halbe Schere“ ausstanzt. Das haben dann andere Arbeiter gemacht. Stanzen, von früh bis spät, tagein, tagaus.

Im nächsten Arbeitsschritt wird dann das Auge ausgestanzt.

Damit war dann die Arbeit in der Schmiede beendet. Das Zusammenbauen, Härten und das Schleifen übernahmen andere Betriebe. Viele Schleifereien befanden sich an der Wupper, und nutzten Wasserkraft für den Antrieb der Schleifsteine. Das läuft unter dem Begriff „Heimarbeit“, auch wenn bis zu 100 Personen in so einer Schleiferei saßen. Auch das wurde mehr und mehr auf Dampfkraft umgestellt. Später konnten sich die Schleifer sogar hier in der Gesenkschmiede einen – maschinenbetriebenen – Arbeitsplatz „mieten“.

Im Rohwarenlager

Nix ist es also mit Handwerksromantik! Das mag ja vor der Industrialisierung noch der Fall gewesen sein, wobei man sich da auch keine allzu großen Illusionen machen darf. Die Arbeit war fast immer schwer und oft gefährlich und ungesund. Und auch vor der Erfindung der Dampfmaschine wurde in wassergetriebenen Schlagmühlen („Hämmer“) schon im Akkord gearbeitet.

Die Dampfmaschine machte die Fertigung dann unabhängig von Wasser und Wind und machte der „Handarbeit“ ein Ende. Besser gesagt: Sie verringerte den Anteil der Handarbeit am Fertigungsprozess. Der lag ja schon vorher nicht bei 100 % und wurde jetzt halt noch geringer. Das wird oft beklagt, doch wurde dadurch ja nicht alles schlechter! Die Arbeit, wie hier in der Gesenkschmiede, war immer noch schwer und anstrengend, aber den schwersten Part übernahm die Maschine. Die höhere Produktivität machte viele Güter des täglichen Lebens billiger und erschwinglich für alle. Das Solinger Tagblatt vom Juni 1927 fasst es so zusammen (und setzt dabei nicht ganz korrekt Handarbeit und Heimarbeit gleich):

Ob der Tarno-Tee was genützt hat, wage ich zu bezweifeln.

Auch den sozialen Fortschritt hätte es ohne die Industrialisierung wohl nicht gegeben, sei es nun aufgrund der Forderungen der Arbeiterbewegung oder aus der reinen Notwendigkeit, die Arbeitskraft der Menschen zu schützen und zu erhalten.

In dem Zusammenhang fallen mir die Beelitz-Heilstätten ein, die wir vor Jahren mal besucht haben: Eine Lungenheilanstalt für Arbeiter südlich von Berlin, errichtet von der Landesversicherungsanstalt, dem Vorgänger der Rentenversicherung. Gegen die Volkskrankheit Schwindsucht – Lungentuberkulose – entstanden ab Einführung der Bismarckschen Sozialgesetze Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche solcher Heilstätten. Medikamentös oder chirurgisch behandeln oder gar heilen konnte man die Tuberkulose nicht, so setzte man an den Ursachen an und versuchte durch Ortswechsel, Unterbrechung der Berufstätigkeit, gesunde Ernährung, hygienische Maßnahmen und eine im weitesten Sinne psychische Einflussnahme eine Besserung des Gesundheitszustands zu erreichen. „Kur“ würde man das heute nennen. Sag das mal einem durch Krieg, Pest, Dürre und seinen Landesherren ausgebeuteten Bauern vor der Industrialisierung. Aber lassen wir das.

Hier in der Gesenkschmiede hat die Firma Hendrichs noch bis 1986 Scherenrohlinge hergestellt, dann wurde der Betrieb eingestellt. Der LVR kaufte das gesamte Anwesen samt Fabrikantenvilla und machte ein Museum draus. Die letzten paar Angestellten wurden auch übernommen und produzieren im Museumsbetrieb bis heute weiter. Das können wir, wie gesagt, am Sonntag selbst erleben, als uns der Museumsschmied alle Arbeitsgänge live an den laufenden Maschinen zeigt. Und wir bekommen sogar eine Schere geschenkt!

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Damit ist das „Sommerwech 2022“ für uns beendet, der HoGo muss zum TÜV, zur Gas- und Dichtigkeitsprüfung und auch bei uns steht der ein oder andere Checkup an. Immerhin waren wir 39 Tage unterwegs, fünfeinhalb Wochen. Und haben wieder richtig viel erlebt!

Unser Sommertörn im Überblick

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