Ein römischer Doppelagent und der touristische Triathlon

Detmold, Donnerstag 4.8. bis Samstag 8.8.

„Fahrt doch mal nach Detmold“ sagte uns eine/r unserer Bekannten, so kam Detmold auf die bucket-list und wir nicht ganz zufällig hier vorbei. Außerdem hat der WoMo-Stellplatz komplette V+E und die brauchen wir jetzt auch: Klokassette voll, Frischwasser leer, Grauwasser 75%.

Wir kommen am Höhepunkt der neuerlichen Hitzewelle dort an und finden erst mal einen halb defekten Kassenautomaten vor. Parktickets wirft er aus (10€/d), aber nicht die Wertkarten, mit denen man Strom und Wasser tanken kann. Der Druck auf die Notruftaste wird von einer Dame beantwortet, die verspricht, einen Techniker vorbeizuschicken. Und es vergehen keine 10 Minuten, da kommt tatsächlich ein Autochen der Stadtwerke (oder so) angefahren, ein freundlicher junger Mann öffnet den Automaten und stapelt die derangierten Karten wieder ordentlich. Funzt! Allerdings hat die Maschine uns nun den Preis für die Karte zweimal abgebucht, also nochmal Notruftaste, nochmal die Dame und … man glaubt es kaum … auch hier erscheint nach kurzer Zeit ein Mensch, der mir lächelnd die überzahlten 4,50 € in die Hand drückt. Wir sind beeindruckt. Das würde in MZ oder WI sicherlich nicht so klappen.

Wir fahren mit den Rädern in die nahe Innenstadt, werden aber da nicht so recht glücklich. Da es morgen, am Samstag, eine öffentliche Stadtführung um 17 Uhr gibt, vertagen wir Detmold, trinken noch ein Bier und machen uns auf zum ersten touristischen Highlight der nahen Umgebung, dem Herrmannsdenkmal.

Das müsste eigentlich Arminius-Denkmal heißen, denn so nannte sich der hier in Bronze (oder ist es Kupfer 🤔) geklöppelte Protagonist. Hermann/Arminius lebte um die Zeitenwende und war war der Sohn eines cheruskischen Fürsten, der sich gut mit den Römern stand. So diente Arminius in der römischen Armee, war Führer germanischer Truppenverbände und erwarb das römische Bürgerrecht. Aber bei weitem nicht alle Cherusker waren den Römern wohlgesonnen und als der Feldherr  Publius Quinctilius Varus im Jahr 9 n.d.Z. bis an die Weser vorrücken wollte, wechselte Herrmann das Lager – heimlich! Er führte Varus in einen Hinterhalt, wo die Römer vernichtend geschlagen wurden.  Varus nahm sich das Leben, seinen abgetrennten Kopf schickten die Germanen nach Rom. Dort soll der Kaiser (ein gewisser Augustus) seine Kleider zerrissen und gejammert haben: „Vare, redde mihi legiones meas! Varus, gib mir meine Legionen wieder“. Die Varus-Schlacht im Teutoburger Wald (wo genau weiß man nicht) beendete aber keineswegs das Expansionsstreben der Römer, die Truppen wurden ersetzt und die Kämpfe gingen unter dem Feldherrn Germanicus, einem Sohn des Drusus, noch einige Jahre weiter. Erst 16 n.d.Z. zogen sich die Römer an Rhein und Donau zurück, bauten den Limes und ließen die Germanen Germanen sein. Und Arminius? Nun, ihm war kein Glück beschieden. Erst nahmen die Römer seine (schwangere) Frau Thusnelda gefangen, dann geriet er zwischen die Mühlen der zahlreichen germanischen Stämme, die ja alles andere als einig waren. Im Jahr 21 wurde Arminius ermordet – von der eigenen Verwandtschaft. Dass man ihn im das riesige Denkmal setzte, ist Folge seiner Glorifizierung, vor allem ab dem 19. Jahrhundert. Allzu gerne griff man den römischen Historiker Tacitus (58-120 n.d.Z.) auf, der Arminius als den „Befreier Germaniens“ dargestellt hatte. Das ist ziemlicher Blödsinn: da es „Germanien“ als politische Einheit nicht gab, konnte es auch nicht „befreit“ werden. Tacitus war ein pessimistischer Systemkritiker, der sich weniger von Fakten, als von seinen subjektiven politischen Vorstellungen leiten ließ. Den deutschnationalen Chauvinisten des 19. Jahrhunderts war das herzlich egal, genauso wie beispielsweise Ludwig II. von Bayern und den Nazis – alles Jünger des völkischen Arminiuskults 😣.

Das Herrmannsdenkmal wurde zwischen 1838 und 1875 erbaut, mit einer Figurhöhe von ca. 26 und einer Gesamthöhe von gut 53 Metern ist es die höchste Statue Deutschlands, bis zur Erbauung der Freiheitsstatue 1886 war es sogar die höchste Statue  der westlichen Welt. Zum Vergleich, die Germania bringt es auf 12,5 resp. 38 Meter.

Das 19. Jahrhundert ist die Zeit der großen Nationaldenkmäler wie eben dieses hier, der Kyffhäuser, die Germania, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica und viele andere mehr. Gegen den Erbfeind Frankreich gerichtet, aber auch auf der Suche nach einer eigenen nationalen Identität werden hier Sinnbilder in Stein bzw. Metall geschaffen, die Orientierung geben sollen. Finanziert wurde das zumeist aus Spenden über Denkmalvereine, so auch hier – crowdfunding, würde man heute sagen.

Anders als die Germania hält Herrmann sein Schwert (gespendet von der Familie Krupp) in die Luft gereckt, es trägt die Inschrift DEUTSCHE EINIGKEIT MEINE STAERKE / MEINE STAERKE DEUTSCHLANDS MACHT. Das war nicht nur 1838 ein frommer Wunsch. Doch immerhin ist der ehemalige germanisch-römische Doppelagent so am End doch noch zu Ruhm und Ehre gekommen. Ob zu Recht, mag dahingestellt sein.

Da könnte man jetzt noch vieles drüber erzählen, aber ich lass es mal gut sein. Ist ein spannendes Thema, die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, finde ich.

Die Fahrt zum Denkmal ist ganz schön anstrengend, vor allem bei der Hitze, und ein Stück muss ich Erika schieben. Gegen 17 Uhr sind wir oben, ziemlich mutterseelenallein und steigen natürlich noch dem Herrmann auf den Sockel.

Von da kann man dann runtergucken 😂.

Guten Morgen!

Das war der Tag 1 in Detmold, er endet mit dem Aufeinandertreffen einer heranziehenden Kaltfront, die zum Glück weder zu Hause noch hier zu schweren Unwettern führt. In der Ferne sieht man Wetterleuchten, es dräut gewaltig, aber bis auf einen schönen Regen in der Nacht ist nix. Das einzige, das stürzt, ist die Temperatur: Von gut 35°C 🥵 auf 20°C 🥶.

Das trifft sich gut für unsere Pläne am Freitag. Ein zweiter Punkt der Liste „things to do before you die“ soll abgehakt werden, nämlich die Externsteine. Mit dem Rad fahren wir ’ne gute halbe Stunde bis da hin und laufen dann die wirklich sehr schöne Strecke des Multis Im Bann der Externsteine. Das geht so nach dem Motto „save the best for last“, denn wir wandern erst mal außen rum dran vorbei, und nähern uns dann von oben hinten.

Externsteine – das kennen viele gar nicht. Z.B. unsere Nachbarn auf dem Stellplatz. Sind wir so schlau oder die so desinteressiert? Die Infoschilder sagen jedenfalls, die Steine zählen zu den bedeutendsten Natur- und Kultursehenswürdigkeiten Deutschlands. Na also!

Zuerst einmal genießen wir aber den Wald! Frischgewaschen nach dem nächtlichen Regen dampft und tröpfelt er vor sich hin, eine ganz schöne Stimmung. Die reinen Fichtenbestände sind auch hier nicht vor dem Hitze- und Borkenkäfertod verschont geblieben, aber das meiste ist ein schöner Laub-Mischwald, der unter Naturschutz steht und nicht forstwirtschaftlich genutzt wird. Und der ist wunderschön!

Fast wie in Neuseeland 💞
Ich ging im Walde so für mich hin …

Interessant sind auch die vielen Hinweistafeln, die die Geschichte und Bedeutung des „Hellwegs“ einer alten Handelsstraße vom Rhein zur Elbe, aus dem die B1 hervorgegangen ist. Die führte hier an der Schwelle des Teutoburger Waldes entlang.

Und dann erscheinen sie endlich: wie riesige Wurstfinger ragen sie in den Himmel, so ganz aus dem Zusammenhang gerissen: Da ist kein Gebirge rundherum, nur zwei längliche 35 Meter-Hügel mit einem (aufgestauten) See dazwischen und die Sandstein-Felsen, 13 an der Zahl, stehen da „einfach so“ in Reih und Glied auf dem Boden, wie das Gebiss eines Riesen, der lange nicht beim Zahnarzt war. Bis zu 40 Meter hoch!

Die Felsen IV bis I (von rechts nach links)

Entstanden sind die Gebilde aus Sandstein, der sich von 120 Millionen Jahren im Kreidemeer ablagert und verfestigt. Vor 70 Millionen Jahren erhöht sich der Druck der nach Norden driftenden afrikanischen Platte auf die eurasische und es beginnen gewaltige Gesteinsbewegungen: Europa wird aufgefaltet wie ein Handtuch, das man auf einem Tisch zusammenschiebt. Am heftigsten geschieht das dort, wo das heutige Italien an die Landmasse „andockt“: Die Alpen falten sich auf. Aber auch weiter entfernt kommt die Erde in Bewegung. So werden auch hier die Gesteinsschichten angehoben, brechen und richten sich senkrecht auf.

Und dann nagt der Zahn der Zeit, sprich die Erosion. Wasser spült erst mal alles weiche Material weg und legt den Riegel aus sehr hartem Sandstein frei. An dem sind senkrechte Risse durch die Lagen des Sandsteins schon „vorprogrammiert“. Auch horizontal bilden sich Spannungen und Risse, der Fels sieht aus, wie aufeinandergestapelte Bauklötze. Säurehaltiges Wasser dringt in die Spalten ein, Frost sprengt sie auf und die Ecken, wo die Angriffsfläche besonders groß ist, werden abgerundet.

Am Ende sieht das Ganze aus wie übereinander gepackte Wollsäcke, und das hat dem Vorgang den lustigen Namen Wollsackverwitterung eingebracht. Wenn das immer weiter geht, fällt der Stapel von Wollsäcke natürlich irgendwann in sich zusammen und ein Felsenmeer entsteht. Oder erst mal nur einzelne Wackelsteine.

Hier ist das Ganze aber noch durchaus stabil und kann bestiegen werden: Steile Treppen sind in die Felsen I, II und III geschlagen und führen zu Aussichtsplattformen, Nummer II und III sind über eine schwindelerregende Brücke verbunden.

Übrigens: Der oben erwähnte Hellweg und auch die B1 führten zwischen Fels III und IV hindurch und – man höre und staune – bis 1953 sogar eine Straßenbahn, die Paderborn mit Horn-Bad Meinberg verband.

Geheimnisvoller Wald

Es ist nicht verwunderlich, dass diese scheinbar aus dem Nichts entsteigende Felsformation seit jeher ein mystischer, kultischer Ort war. Aus christlicher Zeit findet man hier ein Kreuzabnahmerelief (von 1150!), Grotten, Skulpturenreste, ein Felsengrab und einen Altar. Es wird gemutmaßt, dass schon bei den Kelten oder noch früher hier Riten und Kulte vollzogen wurden, durch Funde belegen lässt sich das aber bis heute nicht. Das war natürlich der völkischen Bewegung ab dem 19. Jahrhundert reichlich egal.

Auch die Nazis deuteten zur Untermauerung ihrer kruden Ideologie die Externsteine als heidnische Kultstätte und Beweis einer germanischen Hochkultur. Noch heute versammeln sich hier alle möglichen harmlosen und weniger harmlosen Esoteriker, vom Hobby-Kelten über den Yoga-Lehrer bis hin zum Neonazi.

Das Luftbild hab ich der Homepage der Externsteine geklaut

Nachdem wir alles ausgiebig besichtigt und bestaunt haben, wandern wir über den mit Blaubeerbüschen bewachsenen „Knickenhagen“ zurück zu den Fahrrädern.

Blaubeerbüsche soweit das Auge reicht
Bergheide – ganz in der Nähe liegt auch die „Dose“, deren Spur wir gefolgt sind.

Unser Tag ist aber noch nicht zu Ende! Nach den ersten beiden Disziplinen – 20 km Radfahren und 6.5 km wandern folgt der Abschluss unseres touristischen Triathlons: 2 Stunden Stadtführung in Detmold!

Wir treffen die freundliche, engagierte und kompetente Stadtführerin Frau Sarin (der Name ist etwas unglücklich 🙄) vor dem Theater und treffen hier auch gleich wieder auf Arminius, besser gesagt auf seinen linken Fuß 🦶 – Schuhgröße 333 😂. Sie stellt uns Detmold erst als eine Musikstadt vor, an der Musikhochschule studieren 800 Schüler, überwiegend Asiaten, für die ein Examen aus Detmold in ihrer Heimat ein wahres Karrieresprungbrett ist. Den strengen Anforderungen der Akademie, 8-10 Stunden Üben am Tag, seien die Sprößline der deutschen und europäischen Freizeitkultur nicht gewachsen – so sagt sie.

Wir flanieren dann wie ehedem die Herrschaften der fürstlich lippischen Residenzstadt am Schlossgraben entlang, begegnen Lortzing, der hier eine Zeitlang lebte (allerdings ungern), noch ein paar Architekten und Politikern, die ich mir nicht gemerkt habe und dem – ebenfalls in der Bedeutungslosigkeit (und im Suff) untergegangenen Dichter Christian Dietrich Grabbe. Der soll ganz nette Theaterstücke geschrieben haben, die ihm den Beinamen „deutscher Shakespeare“ einbrachten, allerdings sei zu deren Aufführung eine derartige Masse an Statisten und Kulissen nötig, dass sie de facto als unspielbar gelten 🤷‍♀️🤷‍♂️. Tja, weniger ist manchmal mehr.

Zeitgenössische Berühmtheiten aus Detmold sind übrigens Iris Berben, Andreas Voßkuhle, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Historischer Stadtplan

Baugeschichtlich fällt ein großer Teil der heutigen Stadt in das ausgehende 19./frühe 20. Jahrhundert, die Zeit des Historismus: Jeder baute den Stil nach, der ihm am besten gefiel, manchmal auch mehrere auf einmal. Die Krumme Straße in der Altstadt hingegen beeindruckt mit wunderschönen Fachwerkhäusern, die meisten davon nach dem obligatorischen großen Stadtbrand (hier von 1547) gebaut. 600 alte Fachwerkhäuser gibt es in der Stadt!

Links ein Haus mit heruntergezogenem Erker, der Utlucht; hier konnte man besonders gut das Geschehen auf der Straße beobachten – ähnlich wie bei den Nürnberger Chörlein. Das rechte Haus hat, wie einige andere auch, eine hohes Erdgeschoss mit einem großen Portal, ich vermute ja, das war eine Toreinfahrt und unten waren entweder Stallungen oder Lagerräume für Waren. Das mochte Frau Sarin zwar nicht bestätigen, eine bessere Idee hatte sie aber auch nicht.

In der Krumme(n) Straße
Schloßpark, hinten links das Theater, Baujahr 1914/15

Die für mich beeindruckendste Persönlichkeit ist aber Fürstin Pauline zur Lippe (1769-1820). Ihr Gatte, Fürst Leopold, starb 6 Jahre nach der Heirat und setzte seine Witwe als Regentin ein. Die resolute, gebildete und durch die Erziehung ihres Vaters mit Amtsgeschäften und Verwaltung durchaus vertraute Pauline nahm das Zepter in die Hand und räumte in ihrem kleinen Fürstentum ordentlich auf: Sie gründete die erste Kinderbewahranstalt in Deutschland und ist also die Erfinderin des Kindergartens, richtete eine „Erwerbsschule für verwahrloste Kinder“, ein, ein „freiwilliges Arbeitshaus für erwachsene Almosenempfänger“ und eine „Pflegeanstalt mit Krankenstube“. Neben dem sozialen Engagement brachte sie über ihre Freundschaft zu Josephine, der Frau Napoleons, auch politisch einiges in Wallung: 1809 schaffte sie die Leibeigenschaft der Bauern ab, bewahrte die Selbstständigkeit Lippes und bemühte sich sogar um eine bürgerliche Verfassung. Wenn man sich ihr Bild anschaut, kann man sich vorstellen, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war und sie die Männerwelt ordentlich durcheinander gebracht hat.

Wir bzw. ich mag nach dem Triathlon nicht mehr kochen, es ist auch schon zu spät, so gehen wir ins Brauhaus Strate und lassen uns das Detmolder Bier schmecken. An die lokale Spezialität, den Pickert, eine Art Kartoffelreibekuchen aus Mehl, geriebenen Kartoffeln, Eiern, Rosinen, Hefe, Milch und Wasser, serviert mit Leberwurst, Butter und Rübenkraut, wagen wir uns aber nicht.

Am Samstag verabschieden wir uns von Detmold und fahren ca. 50 km weiter. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

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