Wallanlagen reloaded: Die Neue Mainzer Oberstadt

Hörspaziergang am 16. April 2022

Das Wetter am Osterwochenende verwöhnt und – endlich – mit viel Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Wir beschließen, mal wieder einen Hörspaziergang zu machen und die Wahl fällt uns nicht schwer, wir nehmen #23, den neuesten. Es geht um Parks und Villen in der Oberstadt.

Die Oberstadt gibt es erst, seit per kaiserlicher Erlaubnis kurz nach 1900 die militärischen Anlagen abgerissen werden dürfen: Es verschwinden Kasernen, Kasematten, Wälle und Bastionen und für die Menschen aus der engen, stickigen, finsteren Altstadt entstehen Grünflächen und Naherholungsgebiete.

1897 wird am aufgelassenen Drususwall gegenüber dem Fichteplatz ein Sportplatz mit umlaufender Radrennbahn gebaut. Initiator war der prominente Sportler Georg Drescher, Weltrekordgewichtheber und Olympiateilnehmer, bekannter Händler von Opel-Fahrrädern und Nähmaschinen und natürlich Präsident der Prinzengarde und Sitzungspräsident des MCV.

Die Böschungen des heutigen Wasserspielplatzes sollen Reste der überhöhten Kurven der Radrennbahn sein. In den 20er Jahren wurde das Velodrom aufgegeben und es entstand eine große Freizeitanlage mit dem „Planschi“, alles kostenlos für die eher armen Altstadtbewohner.

Sogar einen kleinen Garten für stillende Mütter gab es, sehr fortschrittlich.

Der Hörspaziergang macht uns aufmerksam auf die beiden „Sternhäuser“ Am Fort Elisabeth. Die wären uns im Leben nicht aufgefallen, schmucklose kleine Hochhäuser, die Ende der 50er Jahre gebaut wurden. Sie sollten Teil eines Hochhausgürtels rund um die Stadt sein – aus dem zum Glück nix geworden ist. Interessant ist, dass hier viele Kleinwohnungen mit 1 oder 1,5 Zimmern realisiert wurden – für die alleinstehenden Frauen, Kriegswitwen oder solche, die wegen des Männermangels der Nachkriegsjahre einfach keinen Mann „abbekommen“ hatten.

Nach den Plänen der – wieder mal – französischen Besatzung nach dem 2. Weltkrieg soll nach den Plänen des Stadtarchitekten Marcel Lods hier die modernste Stadt der Welt entstehen. Alles fein voneinander getrennt, gewohnt wird zwischen Rhein und Hartenberg, dafür soll die Neustadt komplett platt gemacht und durch eine Siedlung identischer Hochhäuser ersetzt werden. Die Verwaltung nimmt den Platz zwischen Kaiserstraße und Ludwigstraße ein und in der Altstadt bleibt ein bisschen „Alt-Mainz“ als eine Art Freilichtmuseum erhalten. Die Mainzer – wen wundert’s – sind nicht begeistert und zum Glück fehlt das Geld für derlei Baumaßnahmen. Lods verlässt, vermutlich genervt oder zumindest desillusioniert, die Stadt. Es übernimmt ein Frankfurter Stadtplaner namens May und nun soll ein lichter Hochhausgürtel um die Stadt entstehen und für den dringend benötigten Wohnraum sorgen. Die Hochhäuser Berliner Siedlung entstehen und das Doppelhochhaus am Volkspark. Dort zu wohnen ist der letzte Schrei, die Wohnungen gehen weg wie warme Semmeln.

Aus dem „Ring“ wird nichts, aber dennoch verschandeln einige Hochhäuser die Stadtsilhouette, allen voran das Unimedizin-Hochhaus am Augustusplatz, das furchtbare Hochhaus am Taubertsberg und das nicht minder schlimme hinter dem Proviantmagazin (Altmünster). Die „Twin Towers“ am Bahnhof finde ich persönlich nicht so schlimm, aber da kann man geeilter Meinung sein.

Wir schieben die Fahrräder durch die Grünanlage am Drususwall und freuen uns über die schönen Apennin-Anemonen. Früher waren hier Kasernen, teilweise noch erhalten, nach dem 1. Weltkrieg Tennisplätze der Franzosen.

Kritisch berichtet Bermeitinger vom „Vinzenz“, heutigen Marienkrankenhaus. Gegründet um 1850 zog es mehrfach um, 1936 an den heutigen Standort in eine ehemalige Kaserne. Erst fusionierte es zusammen mit dem Hildegardis zum Katholischen Klinikum Mainz und wurde … vom Bistum 2020 an einen katholischen Gesundheitskonzern, die Marienhaus GmbH verhökert. Viele Mitarbeitende fühlten sich von „ihrem“ Bischof „verkauft“ und haben das Haus verlassen, sagt Herr Bermeitinger.

Wir schauen kurz bei der Büste von Peter Cornelius vorbei, die auf ihrer hohen Säule den Park überblickt. Bei Wikipedia finden wir eine akustische Kostprobe seines Schaffens und stellen fest, Kirchenchoräle sind ist nix für uns 🙉.

Wir gehen durch die Jägerstraße zur Goldgrube und schauen uns kurz das Gebäude von BIONTECH an. Das wird selbst am Ostersonntag bewacht! Die Welt ist schlecht. Es ist ja lustig, dass das neue Aushängeschild der Stadt und ihre größte Geldquelle ausgerechnet An der Goldgrube seinen Sitz hat. Nomen est omen? Hoffentlich! Ich gönne BIONTECH jeden Cent!

An der Ritterstraße bewundern wir die herrlichen blühenden Zierkirschbäume, ich finde sie dieses Jahr besonders prächtig.

Laut Herrn Bermeitinger sind sie ein „Hotspot“ für Fotografen und besonders bei Japaner:innen sehr beliebt. In der Tat wird hier geknipst was das Zeug hält 📷.

In dem hübschen Wohnhaus an der Ecke lebte einst ein gewisser Alois Strempel, seines Zeichens Chef der Mainzer Caritas. Er sollte in den 30er Jahren für eine rheinhessische Familie in den USA eine Erbschaftsangelegenheit sichern, kam aber unverrichteter Dinge – also ohne Erbe – zurück. Doch dann warf er plötzlich mit Geld um sich, fuhr Auto mit Chauffeur und kaufte unter anderem die kleine Villa in damals schon feinster Mainzer Wohnlage. Kein Wunder, dass man misstrauisch wurde. Man prozessierte über 10 Jahre – ohne Erfolg. 1944 starb Strempel.

Viele der schönen Häuser, Villen und Mehrfamilienhäuser, wurden nach dem 1. Weltkrieg für französische Offiziersfamilien errichtet. Sehr ansprechend!

Nur wenig jünger (Baujahr 1932), aber völlig anders, die nüchternen Häuser im Bauhaus-Stil, die man ebenfalls in der Oberstadt findet.

Der Hammer aber sind drei Häuser An der Goldgrube 33, 35 und 43. Es sind die Stahlhäuser der MAN aus Gustavsburg.

Die MAN – München, Ausgburg, Nürnberger Maschinenfabrik hatte nach dem 2. Weltkrieg einige Geschäftsfelder in der Rüstungsindustrie verloren und kam auf die Idee, angesichts der Wohnungsnot in den Fertighaus zu investieren. Man baute die Häuser mit dem Material, das man am besten beherrschte: Stahl! 8 mm dicke tragende Außenwände wurden auf ein Steinfundament gesetzt, verschraubt, innen dann eine Dämmung aus Hartfaserplatten als Abschluss zum Raum. Das Innenleben der Häuser konnte man frei gestalten, da die Außenwände alles trugen. Kostenpunkt 18.000 Mark, allerdings ohne Küche und Bad. Es wurden ungefähr 230 dieser Häuser verkauft, ein Renner waren sie nicht. 1953 stellte man die Produktion ein. 40 Häuser existieren noch, davon einige in Gustavsburg. Da hatten wir noch nie was von gehört und wären sicherlich auch dran vorbei gefahren.

Noch mehr schöne Villen, die in den 20ern für die Franzosen gebaut wurden:

Mit Geschichten über den Erpressungsversuch des Juweliers Weiland, den O-Bus (Oberleitungsbus), eine Bauunternehmerpleite und das tragische Schicksal der jüdischen Familie Mannheimer, die nach der Reichspogromnacht aus Verzweiflung Selbstmord begingen spazieren wir weiter bis zum Rosengarten.

Das Haus Nummer 2 ist das ehemalige Wohnhaus des Mainzer Bischofs, wo 1980 der bei Karl Kardinal Volk zu Besuch weilende Papst Johannes Paul II. mit jungen „Fans“ auf der Gitarre gespielt und gesungen haben soll. Ich wohnte zu der Zeit in Finthen und kann mich erinnern, dass die Finther ein großes Geschäft witterten: Der Papst sollte nämlich auf dem Flugplatz Layenhof eine Freiluft-Messe halten und man erwartete einen großen Besucherzustrom, besorgte Weck, Worscht und Woi und baute Stände bis hin nach Wackernheim auf. Aber es schüttete aus Kübeln und windig war es dazu – so blieben die Finther auf ihrer Wurst sitzen 😱😂.

Die Ecke Karlsschanze/Am Albansberg ist auch wieder sehr geschichtsträchtig: Die Bastion Karl/ Karlsschanze war Teil des 2. Mainzer Festungsrings und auf dem Albansberg stand eine der bedeutendsten Kirchen der Stadt, St. Alban, nebst Benediktinerabtei, später Ritterstift. Nach vielen Zerstörungen wurde das ganze zwar immer wieder aufgebaut, verlor aber an Größe und Bedeutung, bis Napoleon dann einen Schlusstrich zog.

In der Straße An der Karlsschanze liegt das türkische Generalkonsulat, das seit einem Angriff (1992) von 150 kurdischen Aktivisten von einem hässlichen Container aus bewacht wird.

Das Eckhaus Karlsschanze 16 wurde 1909 für den jüdischen Mainzer Unternehmer Ludwig Meyer, Besitzer einer chemischen Fabrik auf der Ingelheimer Aue, IHK-Präsident und Gründer des Mainzer Rotary-Clubs. Er wurde aus dem Amt gedrängt und enteignet, starb im Exil. Die Villa gefällt mir besonders gut, das nach dem Krieg originalgetreu wieder aufgebaut wurde – für Mainz eher die Ausnahme, denn die Regel.

An der schönen alten Laterne endet der Spaziergang und wir genehmigen uns im Biergarten der Favorite eine abschließende Pause. Danach schnappen wir uns noch das Final des Festungsmultis vom Määnzer und zwei weitere Dosen, bevor es über die Eisenbahnbrücke wieder nach Hause geht.

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